Wissenschaft und Buddhismus

Die Philosophie des Mittleren Wegs als Ansatzpunkt für das Gespräch

Dr. rer. Nat. Dr. rer. Pol. Rudolf F. Matzka
im Mai 2012

Wenn wir uns, von der abendländischen Wissenschaft her kommend, für fernöstliche Weisheitslehren interessieren, unter dem Aspekt, ob wir etwas von ihnen lernen können, dann scheint mir der Buddhismus ein besonders naheliegender Gesprächspartner zu sein. Eine Weisheitslehre enthält rationale Elemente und mystische (irrationale) Elemente. Die buddhistische Philosophie seit Nagarjuna (ca. 200 n.Chr.) hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Verhältnis zwischen dem Rationalen und dem Mystischen von der rationalen Seite her zu klären. Diese Klärung wird von allen buddhistischen Schulen des Großen Fahrzeugs bis in unsere Tage als gültig angesehen.

Hier bietet sich also ein greifbarer Ausgangspunkt für das Gespräch zwischen Wissenschaft und Buddhismus. Speziell die Physik und die Theologie, als extremale Vertreter des Rationalen bzw. des Mystischen, könnten an dieser Klärung interessiert sein. Tatsache ist, dass diese beiden Wissenschaften zwei verschiedenen wissenschaftlichen Kulturen angehören, zwischen denen keinerlei Gespräch stattfindet, der geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Kultur. Eigentlich wäre es eine aktuell vordringliche Aufgabe für die Philosophie, diesen interkulturellen Dialog begrifflich zu ermöglichen und politisch in Gang zu setzen. Statt dessen erschöpft sie sich in der Frage nach der Wahrheit, und in der Frage danach, ob Wahrheit überhaupt das ist, wonach die Philosophie sucht.

Was ist das Ergebnis dieser Klärung, die Nagarjuna geleistet hat? Es geht hier um die Aufdeckung einer Illusion, der wir systematisch unterliegen, wenn wir rational denken. Es handelt sich dabei um die Illusion der Identität (:= Einheit + Unterschiedenheit + Dauer), genauer um die Illusion der Gegebenheit von Identität. Rationalität setzt Identität voraus; Identität kommt aber an sich überhaupt nicht vor, sagt Nagarjuna. Identität kommt immer nur im Kontext eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses vor, als subjektive Konstruktion im Medium des Objektiven. Und wenn das Subjekt die Tatsache der Konstruiertheit vergisst, erscheint Identität als gegeben und gerät damit zur Illusion. Dieses Vergessen ist tatsächlich allgegenwärtig, als unterläge unsere Kultur einer kollektiven Hypnose. Buddhisten reden in diesem Zusammenhang von Unwissenheit oder Verblendung. Buddhas Erwachen kann als ein Erwachen aus dieser Hypnose verstanden werden.

Indem das Dogma der Gegebenheit von Identität als illusionär enttarnt wird, öffnet sich ganz von selbst jede Menge Raum für das Mystische und anderes Irrationales. Jedem Identischen geht ein Prozess voraus, in dem es identisch gemacht wird, und dieser Prozess entzieht sich systematisch dem rationalen Zugriff, weil nur Identisches rational greifbar werden kann. Das Identische und Rationale erscheint somit als eine Superstruktur, die wir über unserer Erfahrung errichten, und die wir typischerweise mit der Wirklichkeit verwechseln. Es ist eine Superstruktur, die alles Kontingente und Einmalige, alles Irrationale und Mystische systematisch ignoriert. Nagarjuna nennt sie die relative oder konventionelle Wahrheit. Die absolute Wahrheit kann man nicht ansprechen oder aussprechen, sie zeigt sich nur, und zwar immer jetzt und immer neu.

Was ist mit dieser Einsicht gewonnen? Nicht mehr als eine Klärung, nicht mehr als ein klares Verständnis der Grenze der Leistungsfähigkeit logischer Rationalität. Wir wissen jetzt, dass wir die Welt nicht logisch-rational beschreiben oder erklären oder verstehen können, wir wissen woran es liegt, dass wir das nicht können, und wir wissen woran es liegt, dass wir dennoch immerzu glauben, wir könnten es. Logische Rationalität operiert in einem konstruierten Raum, den wir in unserer Hypnose mit der Wirklichkeit verwechseln. Damit hat die buddhistische Philosophie ihre Aufgabe erfüllt, auch sie ist eine relative Wahrheit, auch sie kann nicht ins Reich des Einmaligen oder des  Mystischen vordringen. Was also ist der Nutzen der ganzen Unternehmung?

Die buddhistische Philosophie hat ihren Nutzen nicht in sich selbst, sondern in der Praxis. Man könnte sogar sagen, buddhistische Philosophie ist eine bestimmte Praxis, eine bestimmte Art von Übung, deren Zweck darin liegt, den Geist flexibler zu machen, wenn er sich allzu sehr ins Logisch-Rationale verstrickt haben sollte. Geistige Aktivität ist mehr als nur Denken, und Denken ist mehr als nur logisch-rationales Denken. Dieses Mehr wird durch die Übung der Philosophie als Handlunsmöglichkeit erschlossen. Für uns westliche Wissenschaftler stellt sich damit die Frage: In welche Richtungen kann das wissenschaftliche Denken gehen, wenn es nicht mehr – oder nicht mehr nur – logisch-rationales Denken ist? Und in welche Richtungen kann die geistige wissenschaftliche Aktivität gehen, wenn sie nicht mehr – oder nicht mehr nur - Denken ist?

Die Praxis des Kleinen Fahrzeugs war kognitiv ausgerichtet, auf die Einsicht in den Illusionscharakter des Ich als Subjekt-Objekt-Verhältnis hin, und das Ergebnis der Praxis ist Weisheit. Das Große Fahrzeug hat diese Einsicht weiterentwickelt, dahin dass nicht nur das Ich leer ist, sondern alle Phänomene. Und das große Fahrzeug hat die emotionale Dimension ins Spiel gebracht, hat Pratiken entwickelt, die daran arbeiten, den Illusionscharakter der Ich-Du-Relation zu erfühlen sowie Liebe und Mitgefühl zu generieren.

Wenn die Wissenschaft die Grenze des logisch-rationalen Denkens kennt, wenn sie den Illusionscharakter der wissenschaftlichen Subjekt-Objekt-Relation durschaut hat, dann kann sie die freiwerdenden Ressourcen der Erschließung der wissenschaftlichen Subjekt-Subjekt-Relation zuwenden. Dabei wird sie die Frage zu bearbeiten haben, wie die emotionale Dimension in die Wissenschaft Eingang finden kann, ohne dass es peinlich wird. Man kann die Subjekt-Subjekt-Relation nicht nur inhaltlich bearbeiten, man kann sie nicht nur kognitiv bearbeiten. Man wird der Emotionalität im Verhältnis zwischen den Wissenschaftlern und zwischen den Wissenschaften und zwischen den Wissenschaften und dem Rest der Gesellschaft große Aufmerksamkeit schenken müssen. Ohne Liebe und Mitgegühl als gelebte Qualität hat eine trans-rationale Wissenschaft kein Fundament.