Rudolf Matzka, im Juli 2004

 

Kenogrammatik

Ein Bindeglied zwischen
abendländischem und buddhistischem Denken?

Inhalt

1.     Motivation. 2

Die Krise des abendländischen Denkens. 2

Wittgenstein und Nagarjuna. 2

Whiteheads Synthese: Die Wiedervereinigung von Physik und Religion. 2

Die Rückwirkungen von Whiteheads Philosophie auf Religion und Physik. 3

Nicht-denotative Sprachfunktionen als wesentliches Element der Philosophie. 3

Die denotative Funktion des Zeichens. 3

Logik: Die Elimination der nicht-denotativen Sprachfunktionen. 3

Die syntaktische Verankerung des Subjekt-Objekt-Dualismus der Physik. 3

Relative und Absolute Wahrheit im Buddhismus. 3

Leerheit als Schnittstelle zwischen Denken und Handeln. 4

Das Verhältnis von Denken und Handeln in der Physik. 4

Die Erforschung der nicht-denotativen Sprachfunktionen. 4

Leerzeichen und Negativsprache. 4

2.     Kurze Einführung in die Kenogrammatik. 5

Die Existenz der Zeichen. 5

Struktur und Funktion des klassischen Zeichens. 5

Das Alphabet 5

Zeichenreihen. 5

Eine andere Gleichheit für Zeichenreihen. 5

Das Leerzeichen. 5

Das Bindungspotenzial des Leerzeichens. 6

Äußere und Innere Gleichheit 6

Das Kenopaar 6

Der Operator der Konkatenation. 6

Die semiotischen Aktivitäten des Subjekts. 6

Das Subjekt als Operateur der Leerzeichen. 7

Abstraktion vom Subjekt 7

Konkatenation als Begegnung autonomer Leerzeichen. 7

Die triadische Raumzeitstruktur der Begegnung. 7

 


1.          Motivation

In der vorliegenden Arbeit will ich eine Entdeckung des Logikers und Philosophen Gotthard Günther aufgreifen und daraufhin untersuchen, ob sie für den gerade beginnenden Dialog zwischen abendländischem und buddhistischem Denken eine Rolle spielen kann.

Gotthard Günther[1] war ein deutsch-amerikanischer Logiker und Philosoph, der eine fundamentale Kritik der klassischen Logik vorlegte und aus dieser Kritik heraus eine völlig neuartige Theorie verteilter Logiken (Polykontexturale Logik) zu entwickeln versuchte. Sein Name ist in der akademischen Philosophie wenig bekannt[2]; ich kam in den 80er Jahren durch die Begegnung mit zwei Schülern[3] Günthers mit seiner Theorie in Berührung. Nun muss ich zugeben, dass ich zwar seine Kritik der Logik recht gut verstand, seinen konstruktiven Ansatz aber nur sehr vage. Genau genommen war es ein einziges Theorieelement, das ich wirklich verstehen konnte, eben die Keno­gram­matik. Dieses Theorieelement habe ich daraufhin genauer untersucht und das Ergebnis dieser Untersuchung 1993 veröffentlicht[4]. In Fortsetzung dieser Arbeit bringe ich hier die Kenogrammatik mit dem interkulturellen Dialog zwischen abendländischem und buddhistischen Denken in Verbindung.

Mit abendländischem Denken meine ich jenen Entwicklungsstrang des Denkens, der mit der vorsokratischen Philosophie beginnt und in der modernen Naturwissenschaft, insbesondere in der Physik, einen Höhepunkt findet. Das fernöstliche Denken vermag ich nicht zu überblicken, ich beziehe mich deshalb ausschließlich auf das buddhistische Denken, in der Form, in der es bereits in den frühen nachchristlichen Jahrhunderten in Indien unter dem Titel Madhyamika[5] einen hohen Reifegrad erreicht hat.

Abendländisches und buddhistisches Denken könnten nicht gegensäzlicher sein.  Abendländisches Denken ist ein Denken in Entitäten; buddhistisches Denken beruht auf einer fundamentalen Kritik des Denkens in Entitäten. Abendländisches Denken glaubt an die eigenständige Existenz eines Ich; buddhistisches Denken sieht darin einen Irrglauben und hält diesen für den Grund allen Leidens. Abendländisches Denken interessiert sich vor allem für die Dinge, die wir mit unseren Sinnen außen vorfinden, und dafür, wie wir sie zu unserem Nutzen manipulieren können; buddhistisches Denken interessiert sich vor allem für geistige Prozesse und dafür, wie wir sie nutzen können, um uns aus dem Kreislauf des Leidens zu befreien. Abendländisches Denken geht einher mit der Vorstellung einer real existierenden äußeren materiellen Welt, die mehr oder minder blind gewissen mehr oder minder bekannten Naturgesetzen folgt; buddhistisches Denken geht einher mit der Vorstellung einer eher geistigen Welt, in der alles in wechselseitiger Abhängigkeit entsteht und besteht und vergeht.

Die Krise des abendländischen Denkens

Spätestens seit dem Mittelalter gibt es innerhalb des abendländischen Denkens ein Spannungsverhältnis zwischen naturwissenschaftlichem und religiösem Denken. In einer Welt von materiellen Entitäten gibt es für Gott keinen Ort, also muss er außerhalb der Welt gedacht werden, und damit ist er jedem empirischen Zugang enthoben. Und wo er durch Wunder sichtbar in die Welt hineinwirkt, steht sein Wirken zu den Aussagen der Naturwissenschaft im Widerspruch.

Das naturwissenschaftliche Denken wiederum befindet sich seit ca. 100 Jahren in einer Krise. Sie zeigt sich unter anderem darin, dass die grundlegende Theorie über die Funktionsweise der äußeren Welt, die Quantenphysik, nicht wirklich verstanden ist. Man versteht sie zwar gut genug, um die äußeren Dinge auf ganz unglaubliche Weisen zu manipulieren, aber man versteht durch sie nicht, wie die äußere Welt als solche funktioniert. Hinzu kommt, dass es eine zweite, ebenfalls grundlegende Theorie gibt, die relativistische Gravitationstheorie, die sich mit der Quantenphysik nicht in einem gemeinsamen theoretischen Rahmen vereinen lässt. Darin liegt ein großes Hindernis, zum Beispiel für die Kosmologie, wenn es darum geht, den Urknall zu erforschen; dazu wäre eine einheitliche Theorie von Quantenphysik und relativistischer Gravitation unentbehrlich.

Wittgenstein und Nagarjuna

Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Krise hat die abendländische Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein hohes Reflexionsniveau erreicht, und es werden positive Bezüge zu buddhistischem Denken sichtbar. Ludwig Wittgenstein[6] hat mit der Wende vom Tractatus Logico-Philosophicus zur Sprachspieltheorie die Reflexion auf die sprachlichen Voraussetzungen des begrifflichen Denkens vollendet und hat das Verhältnis zwischen Begriff und Welt in sehr ähnlichem Sinne geklärt wie lange vor ihm schon Nagarjuna: In letztendlicher Analyse ist eine positive begriffliche Bezugnahme auf real Geschehendes nicht möglich, möglich ist sie nur im Kontext von Sprachspielen, und das heißt im Kontext von Konventionen, die im Vollzug des gesellschaftlichen Lebens entstehen und bestehen und vergehen.

Whiteheads Synthese: Die Wiedervereinigung von Physik und Religion

Alfred North Whitehead[7] hat das auch so gesehen, er hat sich aber dadurch den Spaß an philosophischen Sprachspielen nicht nehmen lassen. Er wollte ein Sprachspiel erschaffen, in dem alle wichtigen Fragen seiner Zeit diskutiert werden können, insbesondere die Fragen der Naturwissenschaft und diejenigen der Religion. Er fand, dass das größte Hindernis dafür in der Tendenz zur Verfestigung gewisser Dualismen besteht, insbesondere des Dualismus von Geist und Natur. Seine Strategie, der Verfestigung von Dualismen entgegenzuwirken, besteht in der Verwendung eines umfangreichen und komplexen Systems von Kategorien, in dem die verschiedenen Kategorien einander gewissermaßen in Schach halten können. Wenn eine der Kategorien einen Dualismus erzeugt, und dieser dazu tendiert sich zu verfestigen, so kann er durch den Einsatz anderer Kategorien relativiert werden, bevor er eine dominante Rolle annimmt. Das Kategoriensystem ist auch jederzeit offen für Neuzugänge. Die Kategorien Prozess und Relation stellt Whitehead an prominenter Stelle auf, quasi als Bastion gegen die Substanzmetaphysik. Darin ist er der buddhistischen Lehre vom Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit sehr nahe. Das Subjekt entbehrt bei Whitehead jeglicher Substantialität, umgekehrt ist Subjektivität ein wesentlicher Aspekt jeden Naturgeschehens. So kann er den Dualismus zwischen Geist und Natur vermeiden, kann den Geist als natürlich und die Natur als geistig denken. Auch für Gott ist in diesem Sprachspiel Raum, einen nichtsubstantiellen, prozessualen und relationalen Gott. Gott ist bei Whitehead nicht der Schöpfer der Welt, aber doch die Quelle alles Neuen, der Erfinder der Welt, ihre Muse, ihr Sinngeber, ihr Retter.

Die Rückwirkungen von Whiteheads Philosophie auf Religion und Physik

Nachdem ein solcher philosophischer Rahmen geschaffen war, könnte man erwarten, dass nun die offenen Fragen zwischen Naturwissenschaft und Religion endlich auf den Tisch kommen und ausdiskutiert werden, um die Spannungen abzubauen und ein integrales (Religion und Naturwissenschaft umfassendes) Weltverständnis herzustellen. Man könnte auch erwarten, dass nunmehr die Theoriebrüche innerhalb der Physik auf eine philosophisch fundierte Weise diskutiert und geklärt werden, so dass sie den Erkenntnisfortschritt nicht mehr behindern. Nichts davon ist geschehen. Bemerkenswerterweise hat Whitehead sehr viele Anhänger unter den Theologen und sehr wenige unter den Physikern gefunden. Prozesstheologie wird als Forschungsrichtung immer wichtiger; eine Rekonstruktion physikalischer Grundbegriffe auf Whiteheadscher Basis dagegen ist zwar versucht worden, aber nicht gelungen.

Sie kann nicht gelingen, denn die Technik des Sich-gegenseitig-in-Schach-Haltens der Kategorien ist in der philosophischen und theologischen Fachsprache möglich, nicht aber in der Sprache der Mathematik. Das Übersetzen von philosophischer Rede in mathematische Formeln ist nicht machbar, ohne den Dualismus von Geist und Natur ganz eindeutig und unabänderlich zu fixieren. Ich will deutlich machen, warum das so ist.

Nicht-denotative Sprachfunktionen als wesentliches Element der Philosophie

Sprache hat primär eine denotative Funktion und sekundär diverse andere Funktionen. Die Grammatiken unserer Umgangssprachen stellen z.B. Mechanismen bereit für Instruktion, Konnotation, Standpunktwechsel, Kontextwechsel, Themawechsel u.v.m., allesamt nicht-denotative Sprachfunktionen. Durch geschickten Einsatz der sekundären Sprachfunktionen lässt die denotative Funktion der Sprache sich abschwächen oder relativieren. Die Anwendung der sekundären Sprachfunktionen verlangt ein gewisses Maß an Kunstfertigkeit, denn sie wird durch die Logik nicht geregelt. Ein komplexes philosophisches System wie dasjenige Whiteheads (oder Heideggers, oder Derridas, um weitere Namen zu nennen) setzt solche Fertigkeit zum kunstvollen Einsatz nicht-denotativer Sprachmittel notwendig voraus.

Warum ist das so? Weil der Subjekt-Objekt-Dualismus in der denotativen Funktion der Sprache verankert ist. In ihrer denotativen Funktion zeigt Sprache auf eine (der Sprache) äußerliche Welt von Objekten, und sie wird genutzt und interpretiert von einem Subjekt. Es ist die denotative Funktion der Sprache, die die Welt in Subjekt und Objekt (der Sprachnutzung) einteilt. Diese Einteilung fällt in der Naturwissenschaft inhaltlich mit der Aufteilung in Geist und Natur zusammen. Philosophisch lässt sich diese Dualität natürlich sofort (unter Heranziehung anderer Kategorien) abschwächen, relativieren und entwerten. Dazu ist es allerdings nötig, dass die Kategorien sich in der Sprache auf einander beziehen können. Und das ist eine nicht-denotative Funktion der Sprache.

Die denotative Funktion des Zeichens

Nicht erst die Sprache funktioniert primär denotativ, sondern schon die Zeichen, aus denen unsere Sprache gemacht ist. Ch. S. Pierce hat die denotative Funktion des Zeichens als Triade von (1) Zeichen – (2) Objektbezug – (3) Interpretantenbezug beschrieben. Dies macht deutlich, dass die Aufteilung der Welt in Interpretant und Objekt, in Geist und Natur, bereits auf der Ebene des Einzelzeichens vorliegt bzw. vorausgesetzt werden muss, und wie das Zeichen mit seiner denotativen Funktion eine tragende Rolle bei der Konstitution und Aufrechterhaltung dieses Dualismus spielt.

Die Rolle des Zeichens (oder des Begriffs) bei der Konstitution der Objekte unseres Denkens wird auch von Whitehead sehr deutlich beschrieben, z. B. in Modes of Thought[8] unter dem Titel Wichtigkeit. Wichtigkeit ist etwas, das jegliche Begriffsbildung motiviert und leitet, ohne das irgend eine Begriffsbildung gar nicht möglich ist. Wichtigkeit bestimmt, wie wir das Geflecht des Geschehens, in das wir eingewoben sind, wahrnehmend in Vordergrund und Hintergrund einteilen, wie wir den Vordergrund benennen und vom Hintergrund abstrahieren, wie wir das Beziehungsgewebe rund um den Vordergrund durchtrennen und den so isolierten Vordergrund mittels des Begriffs oder des Zeichens (in seiner denotativen Funktion) festhalten. Auch George Spencer Brown[9] hat diesen Prozess sehr genau beschrieben und als Kategorie der Unterscheidung ins Zentrum seiner Philosophie gestellt.

Logik: Die Elimination der nicht-denotativen Sprachfunktionen

Zeichen haben neben der denotativen Funktion noch andere, sekundäre Funktionen. So können auch Sprachen nicht-denotative Funktionen haben, und in welchem Ausmaß diese zum Tragen kommen, hängt von der Grammatik der Sprache ab. Nehmen wir z.B. die logische Formel

(x)A(x)                        für alle x gilt die Aussage A(x)

so wird das Zeichen „x“ hier nicht in denotativer, sondern in konnotativer Funktion genutzt. Auf die Identität oder Gestalt des Zeichens „x“ kommt es nicht an, die Formel

(y)A(y)                        für alle y gilt die Aussage A(y)

sagt das selbe aus. Entscheidend ist nur, dass in der linken und rechten Klammer das selbe Zeichen steht. Das hat aber in diesem Fall nicht zur Folge, dass etwa die Sprache der Logik konnotativer Funktionen mächtig wäre. Sie ist es nicht. Die konnotative Funktion des Zeichens „x“ wird nur zum Notieren des All-Operators benutzt, wodurch sich der Anwendungsbereich der Aussage A erweitert. Nach Anwendung des Alloperators trifft die Aussage A nicht nur auf irgend ein x, sondern auf alle x zu. Die so entstehende Formel ist wieder eine Aussage, also ein denotatives Sprachkonstrukt. Die Sprache des Prädikatenkalküls ist in ihrer Grammatik auf die denotative Sprachfunktion hin optimiert, unter Weglassung aller sekundären Sprachfunktionen.

Die syntaktische Verankerung des Subjekt-Objekt-Dualismus der Physik

Wir können nun leicht einsehen, warum die Physik unlösbar an den Dualismus von Geist und Natur gebunden ist: Weil sie sich dazu entschieden hat, die Sprache der Mathematik als fachliche Grundsprache zu verwenden, und weil die Sprache der Mathematik rein denotativ ist. Mit dieser Entscheidung wird Sprache als Trennlinie zwischen Subjekt und Objekt gesetzt, wird die Dualität von Subjekt und Objekt syntaktisch (semiotisch-grammatisch) fixiert. Die Interpretationen des Physikers sind demgegenüber sekundär, der Dualismus setzt sich stets durch, selbst gegen anders gerichtete Intentionen des Physikers.

Relative und Absolute Wahrheit im Buddhismus

Hat das buddhistische Denken zu dieser Diskussion etwas beizutragen? Ein Eckpfeiler des buddhistischen Denkens ist die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Wahrheit. Es handelt sich hier um eine binäre Kategorie, aber sie führt nicht zu einem dualistischen Verständnis der Welt. Sie unterscheidet vielmehr zwei mögliche Einstellungen des Denkens. Denken ist eine von vielen möglichen Formen des Handelns, und wie jedes Handeln kann man es auf unterschiedliche Weisen ausführen. Es gibt ein naives Denken im Modus des Alltagshandelns und ein kritisches Denken im Modus des Philosophierens, ein relatives Denken und ein absolutes Denken. Das relative Denken bewegt sich in den Sprachspielen des Alltags und respektiert dessen Wichtigkeiten; das absolute Denken sucht nach dem was jenseits aller Sprachspiele zu finden ist.

Das absolute Denken kann nun an irgend einer Entität ansetzen, die aus dem relativen Denken stammt, und kann sie auf ihre absolute Natur hin untersuchen. Es nutzt dabei die Logik des relativen Sprachspiels und evtl. seine eigene (philosophische) Logik. Es stellt dann nach eingehender Analyse fest, dass die Entität leer ist, leer von eigenständiger oder inhärenter Existenz. Die Erfahrung zeigt, dass dies tatsächlich immer möglich ist, gleichgültig um welche Art von Entität es sich handelt. Diese empirisch bewiesene Nichtfindbarkeit von eigenständiger Existenz, ihre Leerheit, kann nun, positiv gewendet, als die wahre Natur aller Entitäten angesehen werden. In dieser positiven Wendung liegt allerdings eine Falle, die das absolute Denken leicht aus seinem absoluten Modus ablenken könnte, nämlich Leerheit zu einer Entität zu machen und sie denkend zu thematisieren. Zur Vermeidung dieser Falle ist im Madhyamika eine strikt negative Sprachregelung gegenüber dem Absoluten eingeführt: Nur nicht-affirmative Negationen[10] können letztgültige Aussagen des absoluten Denkens sein.

Leerheit als Schnittstelle zwischen Denken und Handeln

Damit weigert das buddhistische Denken sich, das Absolute zu denken. Warum? Weil es weiß, dass das Denken sich dafür nicht eignet. Denken ist eine Form des Handelns, und es gibt andere, die besser geeignet sind, eine Verbindung zwischen dem Wissen und dem Absoluten herzustellen. Das Thema der buddhistischen Lehre sind die Praktiken des Geistestrainings, Philosophie ist nur eine dieser Praktiken. Das Affirmationsverbot definiert für das absolute Denken die Schnittstelle zum Handeln. Es ist ein Wegweiser, der das absolute Denken daran erinnert, dass hier das denkende Handeln zu Ende ist und nun anderes Handeln beginnt. Es expliziert das Schweigegebot, das Wittgenstein am Ende des Tractatus ausspricht[11], und stellt es in eine Vermittlungsposition zwischen Denken und Handeln.

Die buddhistische Lehre ist ziel- und handlungsorientiert, die Sprache der Lehre ist reich an instruktiven Impulsen. Das Ziel ist klar, nämlich die Befreiung aus Samsara, dem Kreislauf des Leidens. Die Erfahrungen der Buddhas beweisen, dass dieses Ziel erreichbar ist. Die Funktion der Lehre (Dharma) ist das Vermitteln des knowhow, das zur Ausübung des Geistestrainings nötig ist. Dabei bedient die Lehre sich der relativen Sprachspiele. Über das Absolute kann die Lehre so nicht sprechen, und doch, und das sage ich aus der Erfahrung eines langjährigen Hörers buddhistischer Belehrungen, und doch wird das Absolute hörbar, wenn man zwischen die Worte des Lehrers lauscht.

Das Verhältnis von Denken und Handeln in der Physik

Der Buddhismus hat unserer Diskussion um Whitehead und die Physik also durchaus etwas hinzuzufügen. Er gibt der Philosophie eine Umgebung, stellt sie in einen Handlungskontext, und sorgt innerhalb der Philosophie für eine Schnittstelle zu diesem Handlungskontext. Diese Schnittstelle ist durch die Unterscheidung von absoluter und relativer Wahrheit sowie das Affirmationsverbot für die absolute Wahrheit implementiert.

Auch die physikalische Theorie ist in einen Handlungskontext eingebettet. Der Handlungskontext der Physik ist zum einen ihr eigenes Handeln in Denken, Beobachtung und Experiment, zum andern die Technik als Anwendung der Ergebnisse des physikalischen Handelns. Die Lehrbücher der Physik sind reich an instruktiven Sprachelementen. Diese sind umgangssprachlich formuliert, und deshalb stehen sie weitgehend unvermittelt neben dem theoretischen Kern, der formalsprachlich formuliert ist. Die Vermittlung zwischen Theorie und Handeln geschieht im umgangssprachlichen Text, der formalsprachliche Theoriekern kann sich an dieser Vermittlung nicht beteiligen, er hat dazu keine Schnittstelle. In einer rein denotativen Sprache steht die Denkfigur einer Schnittstelle zum Anderen des Denkens nicht zur Verfügung.

Die Erforschung der nicht-denotativen Sprachfunktionen

Wir verwenden nicht-denotative Sprachfunktionen, sobald wir überhaupt Sprache verwenden, und doch wissen wir wenig über diese Funktionen. Insbesondere haben wir keine Formalsprachen, die einen kontrollierten Einsatz nicht-denotativer Sprachmittel erlauben würden. Die meisterforschte und meistbenutzte Formalsprache, die Sprache des Prädikatenkalküls, die Sprache der Mathematik, gewinnt ihre Mächtigkeit aus der Konzentration aufs Denotative und die Elimination des Nicht-denotativen.

Oben haben wir eine Reihe von Hinweisen darauf gesammelt, welche Rolle nicht-denotative Sprachelemente für das Denken spielen und welche Rolle deren Fehlen für das Denken spielt, und wollen im nächsten Kapitel mit der Erforschung nicht-denotativer Sprachelemente beginnen. Gotthard Günthers Entdeckung des Leerzeichens eröffnet einen ganz neuen Zugang zu dieser Thematik.

Leerzeichen und Negativsprache

Das Leerzeichen ist ein Zeichen, dem die denotative Zeichenfunktion genommen ist. An ihm kann man nicht-denotative Funktionen studieren, ohne dass sie von der denotativen Funktion verdeckt oder dominiert werden. Eine Sprache, die auf dem Leerzeichen aufbaute, wäre eine rein nicht-denotative Sprache, gewissermaßen eine Antisprache zu Logik und Mathematik. Gotthard Günther hatte die Vision einer solchen Sprache und nannte sie Negativsprache[12].

Aufgrund der oben gesammelten Hinweise kann man vermuten, dass eine Negativsprache für die gesellschaftliche Organisation unserer physikalischen und religiösen Erfahrungen hilfreich wäre.

Es gibt in Günthers Nachfolge[13] recht weitgehende Versuche, eine Negativsprache zu entwickeln; ich will darauf hier nicht eingehen. Was meines Wissens fehlt, ist eine kritische Erforschung der neuen semiotischen Entität Leerzeichen, die den wissenschaftlichen Maßstäben der akademischen Philosophie stand hält.

Das Denken orientiert sich in hohem Ausmaß an Zeichen. Es ist daher ein primär denotatives Denken, wiewohl es durchaus nicht-denotativer Wendungen fähig ist. Auch die Philosophie Whiteheads ist in ihrer Grundintention denotativ.

Wenn das Denken beginnt, seine Denkwege an der Dynamik des Leerzeichens zu orientieren statt an der Denotationsfunktion der Zeichen, tritt es in einen nicht-denotativen Modus ein. Es ist nicht der Modus des relativen Denkens, denn alle relativen Sprachspiele sind in ihrer Grundintention denotativ. Es ist auch nicht der Modus des absoluten Denkens, dafür hat es zu viel Struktur.

Der kenogrammatische Denkmodus ist ein dritter Denkmodus neben dem absoluten und dem relativen. Wir können diesen Denkmodus erforschen, indem wir uns ihm aussetzen und dann auf die gewonnenen Erfahrungen reflektieren. In der Reflexion kehren wir dabei stets zum denotativen Denkmodus zurück.

2.          Kurze Einführung in die Kenogrammatik

Die Existenz der Zeichen

Zunächst muss nachgewiesen werden, dass das Forschungsobjekt „Leerzeichen“ überhaupt existiert. Um diesen Beweis vorzubereiten, reflektieren wir auf die klassischen Zeichen[14]. Woher wissen wir eigentlich, dass die Zeichen existieren? Was meinen wir damit, dass sie existieren?

Wir meinen damit, dass wir im Handeln über sie verfügen können, indem wir etwa schreiben oder lesen. Wir erkennen verschiedene Zeichentoken aufgrund ihrer Gestalt als gleich, und das Abstraktum aller gestaltgleichen Token ist der Type. Ein Token kann ohne seinen Type nicht gedacht werden, und ein Type nicht ohne seine Token. Das Zeichen ist ein Konstrukt, das als Relation zwischen Type und Token existiert. Dieses Konstrukt entsteht und besteht als Konvention im geistigen Raum des gesellschaftlichen Handelns. Dorthin müssen wir uns begeben, um den neuen Zeichenbegriff einzuführen. Das Leerzeichen entsteht durch die Veränderung einer Regel des Zeichengebrauchs.

Struktur und Funktion des klassischen Zeichens

Der Type gibt dem Zeichen Dauer und intersubjektive Identität. Dadurch gewinnt das Zeichen die Fähigkeit, Entitäten zu denotieren, so weit diese ebenfalls Dauer und Identität haben, oder auch Entitäten zu stipulieren, so dass diese vom Zeichen Dauer und Identität erhalten. Wir haben oben gesehen, wie Whitehead diesen Vorgang unter dem Titel „Wichtigkeit“ genau beschreibt. Der Vorgang des Denotierens etabliert eine Relation zwischen Zeichen und Entität, die Referenzrelation. Auch sie hat, wie das Zeichen, ihre Existenz im Raum des gesellschaftlichen Handelns, im Sprachspiel.

Das Zeichen ist in seiner denotativen Funktion triadisch, das heißt es zeigt in zwei Richtungen. Explizit zeigt es in Richtung dessen, was es bezeichnet; implizit zeigt es auf das Subjekt, welches über das Zeichen verfügt. Das Subjekt kann auf vielerlei Weise gedacht werden: als Ich, als wissenschaftliche Gemeinschaft, als Vollzug des gesellschaftlichen Lebens, als Sprachspiel, als Interpretant u.v.m. Das Zeichen hat im Verhältnis von Subjekt und Objekt eine Vermittlungsposition inne, es ist quasi das Dritte in der Dualität von Subjekt und Objekt.

Das dauerhafte gesellschaftliche Bestehen der Token-Type-Relation (TTR) ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass das Zeichen seine Hauptfunktion, das Denotieren, erfüllen kann. Das Token ist die Manifestation des Zeichens, der Type seine Identität. Es ist der Type, welcher die Denotationsrelation trägt, und das Token, welches die Denotation kontingent manifestiert. Zeichenstruktur (Token-Type) und Zeichenfunktion (Denotation-Interpretation) sind optimal aufeinander abgestimmt.

Das Alphabet

Um die TTR effektiv nutzen zu können, muss man sich vorab auf ein Alpha­bet einigen, eine Menge von Types oder von Zeichengestalten. Die Generierung des Alphabets ist so etwas wie ein semiotisches „preprocessing“, das dem Zeichengebrauch vorangeht. Die Generierung des Alphabets als semio­tisch-ge­sell­schaft­licher Prozess ist abgeschlossen, wenn die Zeichen gebraucht werden, und das Ergebnis dieses Prozesses ist die erste Voraussetzung jeden Zeichengebrauchs. Die Konventionsfähigkeit des Subjekts ist also in zweifacher Weise in den Zeichengebrauch investiert: im Etablieren des Algorithmus der TTR, und in der Anwendung dieses Algorithmus zum Etablieren eines Alphabets. Der erstere Prozess ist sehr natürlich und eindeutig determiniert, der letztere weist ein großes Maß an Willkür hinsichtlich der Wahl der Zeichengestalten auf, was sich in den verschiedenen Alphabeten zeigt, die es auf der Welt gibt.

Zeichenreihen

Die TTR besteht nicht nur für Zeichenatome, sondern auch für Zeichenreihen. Zwei Exemplare der gleichen Bibelausgabe enthalten die gleiche Zeichenreihe. Worin besteht diese Gleichheit? Sie beruht auf der Anwendung eines Algorithmus, den wir zum Vergleich zweier Zeichenreihen ausführen[15]. Wir vergleichen zwei Zeichenreihen, indem wir sie Position für Position durchgehen und dabei prüfen, ob in beiden Reihen die einander positionell entsprechenden Atome gleich sind. Auf diese Weise erweitern wir die Token-Type-Relation (TTR) der Atome in natürlicher Weise von Atomen auf Zeichenreihen.

Eine andere Gleichheit für Zeichenreihen

Es ist kaum weniger natürlich, wenn wir beim Vergleich zweier Zeichenreihen die Augenlider ein wenig senken und nur prüfen, ob die beiden Zeichenreihen das selbe interne Muster von Gleichheiten und Verschiedenheiten zwischen ihren Atomen aufweisen. Genauer gesagt gehen wir alle Positionspaare durch und prüfen dabei, ob zwischen den beiden Positionen dieses Paars in beiden Reihen Gleichheit oder in beiden Reihen Ungleichheit besteht, und konstatieren Gleichheit der Zeichenreihen, wenn das für alle Positionspaare der Fall ist. Zwei Zeichenreihen sind ungleich, wenn für wenigstens ein Paar von Positionen in der einen Zeichenreihe Gleichheit, in der anderen aber Ungleichheit besteht. Dieser neue Algorithmus generiert eine andere TTR für Zeichenreihen, die eine größere Abstraktionsweite zwischen Token und Type aufweist. Ich will dies die kenogrammatische Token-Type-Relation (KTTR) nennen. Sie begründet einen neuen Begriff von Zeichenreihe, eine Art Non-Standard-Zeichenreihe, das Kenogramm.

Das Kenogramm ist eine zusammengesetzte semiotische Entität, ebenso wie die klassische Zeichenreihe. Es besteht aus mehreren unteilbaren (atomaren) Elementen, ebenso so wie die klassische Zeichenreihe. Das atomare Element des Kenogramms heißt Leerzeichen. Damit ist die Existenz des Leerzeichens konstruktiv nachgewiesen. Es ist das atomare Bauelement, aus dem alle Kenogramme bestehen. Kenogramme sind die Gegenstände einer Non-Standard-Semiotik, die aus der Standard-Semiotik durch eine Regelveränderung hervorgeht. Die Wissenschaft von den Kenogrammen nennen wir Kenogrammatik[16]

Das Leerzeichen

Das isolierte Leerzeichen hat keine Struktur. Es kennt nicht die Unterscheidung von Token und Type. Es hat keine Identität. Wenn wir ein Leerzeichen notieren, hat es natürlich als Zeichentoken eine Gestalt, aber die kenogrammatische Spielregel verbietet uns, diese mit einer anderen Zeichengestalt zu vergleichen, so lange es als isoliertes Leerzeichen auftritt. Die Zeichengestalt ist für das isolierte Leerzeichen unerheblich, und man kann überlegen, ob es andere Notationsweisen für Kenogramme gibt, die ohne Bezugnahme auf Zeichengestalten auskommen. Es gibt sie, aber ich will darauf jetzt nicht eingehen.

Man kann ein Leerzeichen auch als ein Kenogramm der Länge 1 auffassen, und als solches kann man es mit anderen Kenogrammen der Länge 1 (aufgrund KTTR) vergleichen. Man stellt dann fest, dass sie alle gleich sind. In diesem Sinne gibt es  genau einen Type von Leerzeichen, das kenogrammatische Alphabet besteht aus einem einzigen Mitglied. Der Informationsgehalt des Leerzeichens ist daher gleich 2log(1), also Null. Der Begriff eines Alphabets von Atomen ist in der Kenogrammatik sinnlos.

Das Bindungspotenzial des Leerzeichens

Da das isolierte Leerzeichen keine Struktur besitzt, kann es auch keine Funktion haben. Aber es besitzt ein Potenzial. Es kann sich nämlich mit einem anderen Leerzeichen zu einem Kenogramm der Länge 2 verbinden, einem Kenopaar. In einem Kenopaar sind nun aber keineswegs immer beide Leerzeichen gleich. Der Vorgang der Bildung eines Kenopaars erzeugt quasi einen neuen Ort, an dem eine neue Gleichheitsrelation zwischen Leerzeichen besteht. Zwei Leerzeichen in einem Kenopaar können gleich oder ungleich sein. Das Leerzeichen hat also das Potenzial, sich mit einem anderen Leerzeichen zu verbinden und dabei in eine Bindung der Gleichheit oder Ungleichheit an das andere Leerzeichen einzutreten.

Äußere und Innere Gleichheit

Es gilt hier festzuhalten, dass zum kenogrammatischen Zeichenspiel notwendig zwei verschiedene Gleichheitsrelationen gehören. Die eine ist die Gleichheit oder Ungleichheit zwischen Kenogrammen, die durch die KTTR hergestellt wird, die andere ist die Gleichheit oder Ungleichheit zwischen Leerzeichen innerhalb eines Kenogramms, die beim Zusammenfügen der Leerzeichen entsteht. Die eine ist eine strukturelle Gleichheit, die zwischen Kenogrammen bestehen kann, und deren Bestehen oder Nichtbestehen das Subjekt des Zeichengebrauchs gemäß KTTR jederzeit feststellen kann; wir nennen sie äußere Gleichheit. Die andere ist eine binäre Relation, die zwischen Leerzeichen eines Kenogramms entsteht, so bald sie sich verbinden; wir nennen sie innere Gleichheit.

Diese letztere Relation muss nicht unbedingt als Gleichheit oder Ungleichheit interpretiert werden. Wir haben dies zunächst getan, weil wir Leerzeichen in einem Kenogramm faktisch mittels ihrer Gestalt vergleichen. Aber im Grunde spielt die Gestalt der Leerzeichen keine Rolle, und so eignet sich jede beliebige binäre Kategorie als Interpretation für die Relation der Inneren Gleichheit oder Ungleichheit zweier Leerzeichen in einem Kenogramm. Inhaltsneutral spricht man vielleicht am besten von positiver vs. negativer Bindung.

Das Kenopaar

Die klassische TTR ist eine TTR für Atome, die sich in natürlicher Weise auf Zeichenreihen fortsetzt; anders ausgedrückt, die TTR für Zeichenreihen lässt sich auf die TTR für Atome reduzieren. Im Unterschied dazu lässt die KTTR sich nicht auf eine TTR für Atome reduzieren. Wohl aber kann die KTTR auf die KTTR für Zeichenpaare, d.h. für Zeichenreihen der Länge 2, zurückgeführt werden. Zwei Zeichenreihen, bei denen alle internen Atompaare kenogrammatisch gleich sind, sind auch selbst kenogrammatisch gleich. In gewissem Sinne stellen also die Kenopaare eine Basis der Kenogrammatik dar. Es ist daher angemessen, die Erforschung der Kenogramme mit der Erforschung der Kenopaare zu beginnen.

Es gibt genau zwei Kenopaare, das Gleiche (oder Positive) Paar (AA) und das Ungleiche (oder Negative) Paar (AB). Als Mitglied eines Alphabets aus zwei Elementen kann das Kenopaar Träger von Information werden, und zwar von 2log(2) = 1 Bit an Information.

Der Operator der Konkatenation

Das Bemerkenswerteste an einem Kenopaar ist der Prozess seiner Entstehung. Es entsteht durch Konkatenation zweier Leerzeichen. Was meinen wir aber mit Konkatenation? Klassisch ist Konkatenation ein Operator, der auf ein Paar von Zeichenreihen angewendet wird und eine zusammengesetzte Zeichenreihe ergibt. Ein Operator ist ein Stellvertreter für eine Operation, eine Handlung, die wir immer wieder mit eindeutig bestimmtem Ergebnis durchführen, ein Automatismus oder Algorithmus, an den wir die Handlung delegieren können. Den Operator Konkatenation anwenden heißt, dass die zwei Zeichenreihen hergenommen und aneinandergehängt werden, die erste links und die zweite rechts, cut and paste sozusagen.

Wie konkatenieren wir zwei Leerzeichen? Wir können sie nicht einfach hintereinander schreiben, weil wir nicht wissen, ob wir sie als Gleiche oder als Ungleiche hinschreiben sollen. Die Relation der inneren Gleichheit existiert zwischen den beiden Leerzeichen noch nicht, solange sie nicht einem Kenogramm angehören. Die Spielregel verbietet uns in diesem Fall, ihre Gestalten zu vergleichen. Nachdem die Konkatenation stattgefunden hat, existiert die innere Gleichheitsrelation, und gemäß der Spielregel muss dann entschieden sein, ob die beiden gleich oder ungleich sind. Wir müssen also, während wir die Operation des Konkatenierens ausführen, eine Entscheidung darüber treffen, ob das entstehende Kenopaar ein Gleiches oder ein Ungleiches (Positives oder Negatives) werden soll. Aber wir finden im Konkatenationsprozess selbst kein Kriterium dafür, wie die Entscheidung zu fällen ist.

Gibt es in der Kenogrammatik einen Konkatenationsoperator? Einen Automaten, an den wir die Arbeit des Verknüpfens zweier Kenogramme delegieren können? Der Prozess der Verknüpfung zweier Leerzeichen umfasst eine Entscheidung, und sein Ergebnis ist nicht eindeutig bestimmt. Wenn wir den Prozess automatisieren wollen, müssen wir eine Entscheidung simulieren, etwa durch einen Zufallsgenerator. Wir sollten aber nicht gewillt sein, an einer so frühen Stelle der Analyse einen Wahrscheinlichkeitsbegriff zu investieren, und somit heißt die Antwort: Nein, die Kenogrammatik hat keinen Konkatenationsoperator. Einstweilen müssen wir selbst der Operator sein, müssen die Operation der Konkatenation immer wieder selbst ausführen, die Entscheidung immer wieder selbst treffen. Vielleicht gelingt es uns ja später, den Begriff des Operators so zu ver­ändern, dass er auf die neue Situation passt.

Es ist nun an der Zeit, die Rolle des Subjekts beim Gebrauch der Zeichen bzw. der Leerzeichen unter die Lupe zu nehmen. Wir werden den Subjektbegriff differenzieren müssen, um die Funktionsweise der Leerzeichen besser zu verstehen. Dazu machen wir einen Reflexionsschritt und nehmen gegenüber dem Subjekt und seinem Gebrauch der Zeichen eine beschreibende Haltung ein.

Die semiotischen Aktivitäten des Subjekts

1.   a)   Das Subjekt ist zunächst der Ort, an dem das Zeichenspiel mit seiner Token-Type-Relation seine Existenz hat. Das ist der Ort, an dem wir den Übergang von der Standard-Semiotik zur Kenogrammatik durch eine Regelveränderung vorgenommen haben.

1.   b)   Das Subjekt ist auch der Ort, an dem das Alphabet entsteht und existiert. In der Kenogrammatik entfällt diese Aufgabe.

1.   c)   Das Subjekt ist auch der Ort, an dem die Referenzrelationen der Zeichen und Zeichenreihen entstehen und existieren, und damit auch der Ort, an dem die Entitäten existieren, auf die da referiert wird. In der Kenogrammatik entfällt diese Aufgabe.

2.      a)   Das Subjekt ist der Operateur der Zeichen. Es ist der Agent, der die Zeichen manipuliert, d.h. zusammenfügt und schreibt.

2.   b)   Dabei fallen Entscheidungen an. Das Subjekt ist auch der Agent, der diese Entscheidungen fällt.

            Beim klassischen Zeichengebrauch geht es dabei um die Auswahl eines Zeichens aus dem Alphabet oder um die Auswahl zweier Zeichenreihen, die zu konkatenieren sind. Die Kriterien für diese Entscheidungen kommen aus dem Inhaltlichen, d.h. aus dem Denotationsbereich der Zeichen.

            Beim kenogrammatischen Zeichengebrauch entfällt die Auswahl aus dem Alphabet, dafür fällt hier ein Entscheidungsbedarf während der Operation des Konkatenierens an.

3.         Das Subjekt ist der Interpretant der Zeichen, ihr Leser.

Wir können die unter 1. genannten Aktivitäten des Subjekts als statische, die unter 2. und 3. genannten als dynamische Aktivitäten bezeichnen. Die statischen Aktivitäten stellen die Bedingung der Möglichkeit des Zeichengebrauchs her, die dynamischen Aktivitäten sind der Zeichengebrauch. Hinsichtlich der statischen Aktivitäten gibt es zwischen klassischem und kenogrammatischem Zeichengebrauch keinen Unterschied (außer der oben eingeführten Verschiedenheit der Regeln), und wir wollen diesen Aspekt deshalb nicht weiter betrachten. Wenn wir Zeichen gebrauchen, seien es klassische Zeichen oder Leerzeichen, müssen wir uns dabei der Existenzweise des Regelsystems, das den Zeichengebrauch ermöglicht, nicht bewusst sein.

Das Subjekt als Operateur der Leerzeichen

Die Aufgabe des Subjekts als Operateur von Leerzeichen (2) lässt sich in der Kenogrammatik reduzieren auf die Aufgabe, zwei Leerzeichen zu einem Kenopaar zu konkatenieren. Diese lässt sich wie folgt weiter analysieren:

i)                    Es braucht einen Impuls, ein Motiv, eine Wichtigkeit, die den Anstoß gibt, eine Konkatenation durchzuführen. Dieser Impuls bringt gewissermaßen zwei Leerzeichen in Bewegung, so dass sie einander begegnen.

ii)                  Die Entscheidung muss fallen. Dazu braucht das Subjekt ein Kriterium. Dieses Kriterium kann sich aus dem Impuls ableiten, der den Anstoß gab.

Abstraktion vom Subjekt

Wir wollen nun zeigen, dass es denkmöglich ist, die dynamischen Aktivitäten des Subjekts den Leerzeichen selbst zuzuweisen. Für dieses Argument ist noch ein weiterer, letzter Reflexionsschritt notwendig. Wenn wir, wie oben unter (2), über das Subjekt und die Leerzeichen sprechen, was ist dann die Existenzweise dieses Subjekts? Es ist ein Gegenstand unserer Diskussion, ein Element unserer gedanklichen Phantasie. Wir denken es als Subjekt, das heißt wir denken es als einen möglichen Ort für Aktivitäten und Entscheidungen. Wenn wir Zeichen denken, denken wir sie normalerweise nicht als einen möglichen Ort für Aktivitäten und Entscheidungen. Aber nichts hindert uns, unsere Denkgewohnheiten zu verändern. Wir können den Prozess auch so denken, dass die Leerzeichen ein gewisses Maß an Eigenaktivität haben, das ihnen erlaubt, einander gelegentlich zu begegnen. Und dass die Entscheidung, ob sie gleich oder ungleich werden, nicht vom Subjekt getroffen wird, sondern zwischen den Leerzeichen fällt. Unter dieser Interpretation bleibt dem Subjekt nichts weiter zu tun und wir können von ihm abstrahieren.

An dieser Stelle haben wir ein wenig Phantasie investiert, aber nicht mehr, als die Erfahrung im Ungang mit Leerzeichen nahe legt. Wir reflektieren auf einen Prozess zwischen Leerzeichen, und das tun wir im denotativen Denkmodus. Dazu ist ohnehin eine Interpretation erforderlich, etwas, das wir dem Prozess hinzufügen, um ihn denotativ denken zu können. Wir sollten diese Interpretation so wählen, dass sie dem Prozess auf möglichst natürliche Weise gerecht wird. Die innere Gleichheitsrelation zwischen Leerstellen existiert nur lokal im Innern des Kenogramms, und so wäre es weniger natürlich, die Entscheidung beim Subjekt zu lokalisieren, denn dieses befindet sich außerhalb des Kenogramms.

Konkatenation als Begegnung autonomer Leerzeichen

Der kenogrammatische Zeichengebrauch funktioniert anders als der klassische. Der klassische Zeichengebrauch lebt von der Bedeutung der Zeichen, er richtet die Aufmerksamkeit des Subjekts über die Referenzrelation auf eine den Zeichen äußerliche Welt. Die Leerzeichen tragen keine Bedeutungen, und deshalb richtet ihr Gebrauch die Aufmerksamkeit des Subjekts auf das, was zwischen den Leerzeichen geschieht, sowie auf das, was zwischen den Leerzeichen und dem Subjekt geschieht.

Das einfachste Geschehen zwischen Leerzeichen ist der Vorgang ihrer Begegnung und Verbindung zu einem Kenopaar. Der Vorgang verlangt zwei subjektive Leistungen: erstens einen Impuls, der zu der Begegnung führt, und zweitens eine Entscheidung. Wenn wir von der faktischen Situation des Zeichengebrauchs ausgehen, liegen beide Leistungen der Subjektivität eindeutig beim Subjekt des Zeichengebrauchs. Es steht uns jedoch frei, diese beiden Leistungen als über die Leerzeichen verteilte Subjektivität zu imaginieren. Dann kommt die Aktivität dem Leerzeichen zu, und die Entscheidung fällt zwischen den Leerzeichen.

So gewinnen wir das geistige Bild eines Ereignisses oder eines Prozesses, das (der) sich zwischen zwei autonomen Leerzeichen abspielt. Man kann sich dieses Bild auch als einen kleinen Animationsfilm denken. Die Aktivität der Leerzeichen führt zur Begegnung, es geschieht eine Art von wechselseitiger Öffnung, in deren Folge ein neuer Ort entsteht, an dem eine Entscheidung fallen kann, und die simultan mit dem Entstehen des Ortes auch fällt. Damit ist ein Kenopaar entstanden, entweder ein gleiches oder ein ungleiches, und dieses ist dann auch von außen als gleiches oder ungleiches Kenopaar erkennbar.

Die triadische Raumzeitstruktur der Begegnung

Der Prozess der Begegnung zweier Leerzeichen weist eine triadische Raumstruktur auf: ein Leerzeichen, noch ein Leerzeichen, und das Zwischen der Leerzeichen. Das Zwischen ist der Ort der Entscheidung. Er weist auch eine triadische Zeitstruktur auf: die Zeit vor der Entscheidung, die Zeit nach er Entscheidung, und das Während der Entscheidung. Das Während und das Zwischen ist das selbe.

 



[1] Gotthard Günther, 1900 –1984. Hauptwerk: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1-3, Felix Meiner Verlag 1976-1980.

[2] Internet: http://guenther.uni-klu.ac.at/index.htm

[3] Rudolf Kaehr und Joseph Ditterich: Einübung in eine andere Lektüre: Diagramm einer Rekonstruktion der Güntherschen Theorie der Negativsprachen. Philosophisches Jahrbuch, 86. Jhg., 1979, S. 385-408. Internet: http://­www.­vordenker.­de/­ggphilosophy/­kaehr_einuebung.pdf

[4] Rudolf Matzka: Semiotic Abstractions in the Theories of Gotthard Günther and George Spencer Brown. Acta Analytica 10/1993, S. 121

[5] Nagarjuna: Mulamadhyamaka-Karikas. Deutsche Übersetzung in: Die Philosophie der Leere, Harrassowitz-Verlag 1997

[6] Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, stw 501

[7] Alfred North Whitehead, 1861-1947. Hauptwerk: Process And Reality, The Free Press, New York 1978.

[8] Alfred North Whitehead: Modes of Thought, The Free Press New York 1960

[9] Goerge Spencer Brown: Laws Of Form, New York 1977.

[10] Nicht-affirmative Negation: Eine Negation, die keinerlei positive Aussage impliziert. Gegenbeispiel: „Dieser Apfel ist nicht rot“. Hier wird zwar das Rot negiert, zugleich aber die Existenz des Apfels und die Tatsache seiner Farbigkeit bestätigt.

[11] „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Ludiw Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, Satz 7.

[12] Gotthard Günther: Martin Heidegger und die Weltgeschichte des Nichts, in: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, a.a.O., Bd. 3 S. 260

[13] Rudolf Kaehr, Thomas Mahler: Morphogrammatik. Eine Einführung in die Theorie der Form. Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion, Heft 65/1994. Hrsg: Institut für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Universitäten Innsbruck, Klagenfurt und Wien, Arbeitsbereich Technik- und Wissenschaftsforschung.

[14] „Zeichen“ wird hier mit „Schriftzeichen“ synonym verwendet

[15] Matzka, a.a.O., S. 124

[16] Der Begriff „Kenogrammatik“ als Bezeichnung für die Wissenschaft der Kenogramme erscheint mir etwas unglücklich, weil er nahelegt, es handle sich um eine spezielle Grammatik, während der Gegenstand dieser Wissenschaft doch vor jeder Grammatik liegt. „Kenotik“ würde mir besser gefallen.