Konzepte, Realität und Verblendung

Ein Beitrag zur Diskussion um Buddhismus und Naturwissenschaft

Rudi Matzka, Oktober 2003

Verblendung ist allgegenwärtig. Die meisten Menschen, die ich kenne, mich ganz ausdrücklich eingeschlossen, teilen sie. Es ist jene Ver­kramp­fung unseres Herzens, die uns daran hindert, unseren Ängsten, unserer Verlegenheit, unserer Trauer, und unserer Freude direkt ins Gesicht zu sehen; die uns in Tagträume und Gedankenwelten flüchten lässt, wenn das, was gerade jetzt ge­schieht, zu beunruhigend oder zu langweilig ist. Jene seltsame Unsicherheit, die dazu führt, dass wir vor unseren Emotionen davonlaufen, oder uns vor ihnen schützen, indem wir uns verschließen und verpanzern. Jene Dumpfheit, die uns in alten Gewohnheiten und Süchten verharren lässt, obwohl wir im Grunde wissen, dass sie längst funktionslos und schädlich geworden sind. Jene Blindheit, in der wir uns Konzepte von der Welt basteln, dann an diese Konzepte glauben, und dann in diesem Glauben gefangen sind.

Ich weiß nicht, ob diese Beschreibung verständlich ist. Wenn ja, so gibt es jedenfalls unterschied­liche Meinungen darüber, in welchem Umfang das Beschriebene veränderbar ist. Eine mögliche Meinung dazu ist, unser Geist werde durch „Programme“ gesteuert, an denen man nichts ändern kann. Aber Programme sind nur aus Benutzersicht unveränderbar, aus Programmierersicht sieht das ganz anders aus. Vielleicht kann man die Lehre des Buddha auch so zusammenfassen, dass wir alle Pro­gram­mierer sind. Dass unser Geist die Fähigkeit hat, die Program­me, die ihn steu­­ern, zu durchschauen, zu verändern, und sich ihrer Wirkung zu entziehen. Ich persönlich habe mehr als einmal die Erfahrung gemacht, dass geistige Gewohnheiten, sobald ich meine Achtsamkeit darauf richte, ganz von selbst schwächer, und schließlich unwirksam werden. Diese Erfahrung veranlasst mich, die Lehre des Buddha in dieser Hinsicht für zutreffend zu halten. Das gehört zu den Voraussetzungen, unter denen ich über den Zusammenhang von Buddhismus und Naturwissenschaft nachdenke.

Nun will ich mich dem Aspekt der Verblendung zuwenden, der mit Konzepten zu tun hat, und den emotionalen Hintergrund fürs Erste beiseite lassen. Um die Dynamik der Konzepte zu beschreiben, kann man drei Phasen im Lebenszyklus eines Konzepts unterscheiden: Das Bilden eines Konzepts, das Festhalten an einem Konzept, und das Geblendetsein von einem Konzept. Das Bilden eines Konzepts geschieht im Kontext der Erfahrung, das heißt aus der direkten Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Wir selektieren einen Aspekt der Erfahrung und abstrahieren ihn zum Konzept, mit dem Ziel, später in einer ähnlichen Situation besser vorbereitet zu sein und uns darin angemessener verhalten zu können. Das ist eine sehr gute Methode, um Erfahrung für unser Handeln nutzbar zu machen. Nun ist aber das einzig Sichere, das wir von der Wirklichkeit wissen, ihre Veränderlichkeit. Ein Konzept ist hingegen etwas, das sich ohne unser Zutun nicht ändert. Konzepte tendieren daher dazu, zu veralten. Nun kommen wir in eine neue und (teilweise) unbekannte Situation, in unserer Unsicherheit können wir sie nicht richtig einschätzen, also greifen wir nach dem Konzept, als Unterstützung und Entscheidungshilfe, und handeln nach dem Konzept. Das nenne ich Festhalten an einem Konzept. Das kann angemessen sein oder auch nicht. Wird diese Vorgehensweise zur Gewohnheit, so führt das dazu, dass ich die Situation als solche gar nicht mehr wahrnehme, weil ich ja das Konzept habe und mein Handeln ganz und gar vom Hier-Und-Jetzt der Situation entkopple und an das Konzept binde. Das ist die Phase des Ge­blen­det­seins.

Ist man von einem Konzept geblendet, so verwechselt man das Konzept mit der Wirklichkeit, d.h. man glaubt, die Wirklichkeit vor sich zu sehen, sieht aber in Wirklichkeit nur das Konzept. Der Begriff „Verblendung“ meint, dass wir in unserem Alltagsbewusstsein von zahllosen Kon­zepten auf diese Weise geblendet sind. In diesem Zustand ist man kaum in der Lage, Konzepte und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden. Insbesondere kann man sich einen Zustand, in dem man frei von Konzepten wäre, oder wenigstens nicht von Konzepten geblendet wäre, kaum vorstellen. Deshalb ist Meditation so wichtig. Meditation bringt den inneren Dialog zur Ruhe, und dadurch verlieren die Konzepte ihre hypnotische Kraft.

Nicht nur jeder Einzelne hat in dieser Weise mit Konzepten zu tun, sondern auch wir gemeinsam und die Gesellschaft in der wir leben. Es gibt meine Konzepte, es gibt deine Konzepte, es gibt Konzepte, die wir gemeinsam haben. Konzepte sind die Basis unserer Sprache, die Basis unserer verbalen Verständigung. Es gibt auch Konzepte, die wir glauben gemeinsam zu haben, die aber nur jeweils das Wort gemeinsam haben, mit dem wir es benennen. Das ist die Basis unserer Missverständnisse. Wenn wir miteinander reden, über uns, über Physik, über die Rückseite des Mondes, so bewegen wir uns im Raum unserer Konzepte. Auch wenn wir denken, bewegen wir uns im Raum unserer Konzepte. Deshalb bin ich sehr skeptisch, wenn in einer philosophischen Debatte das Wort „Realität“ verwendet wird. Dieses Wort gibt vor, das zu meinen, was jenseits unserer Konzepte ist. Aber was immer da ist, jenseits unserer Konzepte, wir können es mit den Mitteln der Sprache nicht erreichen, auch nicht mit dem Wort „Realität“.

Und doch ist die Frage nicht totzukriegen: Gibt es eine Realität jenseits unserer Konzepte? Mit dieser Frage stoßen wir an die Grenze dessen, was unser Verstand zu leisten vermag, weil der Verstand nichts anderes kann, als Konzepte zu verarbeiten. Und wenn man mich trotzdem zwingt, auf die Frage zu antworten, so sage ich: ja, es gibt eine Realität jenseits unsere Konzepte, aber wir können darüber nicht sinnvoll reden oder nachdenken.

Eine zweite Frage hängt mit dieser zusammen und ist ebenfalls nicht totzukriegen: Ist die Realität uns gegeben oder erzeugen wir die Realität? Auch diese Frage löst sich auf, wenn man ein gewisses sprachphilosophisches Reflexionsniveau ins Spiel bringt. Ich denke, dass wir die Realität in einem doppelten Sinn selbst erschaffen:

1.      Wenn wir mit unserem verblendeten Geist „Realität“ sagen, dann meinen wir damit das, was wir für Realität halten, was aber in Wirklichkeit ein buntes Kaleidoskop von Konzepten ist. Diese Konzepte haben wir selbst geschaffen. In vielen Fällen sind wir nicht persönlich der Hersteller der Konzepte, sondern wir haben sie übernommen (von unseren Eltern, Lehrern, Medien etc.), aber auch in diesem Fall sind wir es, die die Konzepte reproduzieren und in unserem Geist wirken lassen. Wir leben in einer Scheinwelt von Konzepten, und diese Schein­welt haben wir vollständig selbst erschaffen.

2.      Realität geschieht immer nur hier und jetzt, und wir sind immer mit dabei. Realität ist ein Spiel, bei dem wir immer mitspielen, und bei dem wir immer am Zug sind. Jede Situation wird real nur dadurch, dass wir sie interpretieren und in ihr handeln. Da wir verblendet sind, sehen wir oft die Möglichkeiten nicht, die in einer Situation stecken. Dennoch investieren wir in jedem Moment unsere Kreativität: in der Art, wie wir eine von vielen Möglichkeiten auswählen, die Situation zu interpretieren, in der Art, wie wir handeln oder auch nicht handeln. In diesem Sinne sind wir ohne Unterbrechung an der Herstellung von Realität beteiligt.

Um das Ganze nochmal in anderem Licht zu betrachten, will ich fragen: In welchem Verhältnis stehen unsere Konzepte zur Realität? Antwort: Ein Konzept kann nützlich oder nutzlos sein, ein Konzept kann aktuell oder veraltet sein, ein Konzept kann aber nicht wahr oder falsch sein. Wenn ich in einer Situation ein Konzept zur Anwendung bringe, dann zeigt sich, wie nützlich und wie aktuell es ist. Aber die Frage „ist das Konzept wahr?“ hat eine Voraussetzung, mit der ich nichts anfangen kann. Die Voraussetzung nämlich, dass es ein Etwas jenseits des Konzepts gäbe, mit dem man das Konzept vergleichen könnte. Wäre es so, dann könnte man das Konzept neben jenes Etwas stellen und beurteilen: Ja, die beiden stimmen auf solche Weise überein, dass das Konzept als wahr gelten kann. Oder: Nein, sie stimmen nicht über­ein, das Konzept ist nicht wahr. Aber so ist es nicht. Ich will nicht sagen, dass es nichts jenseits des Konzepts gäbe, aber was immer da ist, es hat nicht den Charakter von „Etwas“. „Etwas“ ist immer etwas, das von anderem unterschieden ist, und nichts ist an sich von irgend etwas unterschieden. Das Unterschiedensein kommt nur durch unsere Konzepte in die Welt.

Nehmen wir zum Beispiel die Sonne. Die Astronomen erzählen uns vom Sonnenwind und davon, dass er nicht nur bis zur Erde weht, sondern bis in die letzten Winkel des Universums. Wodurch entsteht nun das Unterschiedensein der Sonne? Die Sonne selbst macht jedenfalls keinen Unterschied zwischen sich und dem Rest des Universums. Ich will nicht sagen, die Sonne wäre nicht da, wenn wir nicht hinschauen, oder wenn wir sie nicht benannt hätten; aber wenn wir Menschen sie nicht unterschieden hät­ten, dann wäre die Sonne kein Etwas. Dessenungeachtet ist das Sonnenkonzept ungeheuer nützlich, immer schon gewesen, in allen Kulturen, die wir kennen.

Unter allen Konzepten gibt es ein besonders subtiles, das allen anderen Kon­zep­ten vorausgeht und zugrunde liegt, und das deshalb besonders schwer zu durchschauen ist. Es ist das Konzept „Ich“. Wäre ich frei von Konzepten, so wäre auch „Ich“ nicht unterschieden. Ein Säugling mag in diesem Geisteszustand sein, bevor er anfängt Dinge zu unterschieden. Man sagt, dass ein solcher Zustand auch durch Meditation erreicht werden kann. Bilden wir nun ein Konzept, z.B. „dieses Gesicht“, so ist darin implizit enthalten, dass „dieses Gesicht“ nicht „Ich“ ist, sondern dass „Ich“ es bin, der dieses Gesicht sieht oder denkt. Das Ichkonzept wird also zugleich mit dem ersten Dingkonzept erzeugt, komplementär dazu. So bald ich zwei Konzepte habe, ist es beide Male das selbe Ich, das sie hat, und damit wird das Ichkonzept bestätigt und verstärkt. Jedes neue Konzept fügt sozusagen zum Ichkonzept eine weitere stabilisierende Strebe hinzu, und wenn unser Geist mit Konzepten angefüllt und geblendet ist, so ist das Ichkonzept derart eingenagelt, dass es an seiner „Realität“ nicht mehr den geringsten Zweifel geben kann.

Es gibt eine Klasse von Konzepten, deren Nützlichkeit in hohem Maße unabhängig von einzelnen Personen und von konkreten Situationen ist. Das sind durchweg solche Konzepte, die unzweideutig im „Außen“ angesiedelt sind: Konzepte von materiellen Dingen wie Sonne, Mond und Erde, Pflanzen und Tieren, Städten, Ländern und Flüssen, Häusern, Tischen und Stühlen, unserem menschlichen Körper, etc. Speziell in unserer Gesellschaft gehören dazu auch Autos, Mondraketen, Messgeräte und Ähnliches. Das sind gesellschaftliche Konzepte, und sie spiegeln die Art und Weise wieder, wie wir leben, wie wir im Laufe der Geschichte unseren Lebensraum geistig und physisch eingeteilt und gestaltet haben, indem wir Dinge unterschieden und benannt, andere Dinge erfunden und hinzugefügt haben. Das ist es wohl, was wir meinen, wenn wir ganz unreflektiert von „der Realität“ sprechen.