München, 24. 6. 2004

Lieber Karl-Heinz,

zwischendurch ein paar Gedanken, die mir gerade im Urlaub gekommen sind.

A + B = AB

A + B = AA (oder = BB, das ist das selbe)

A + B =

Mir liegt daran, Dein Interesse an der Kenotik zu wecken. Deshalb will ich versuchen, die Art meines Interesses an der Kenotik zu explizieren. Wie immer schreibe ich frei von der Leber weg, ohne Rücksicht auf irgendwelche existierenden Terminologien. Ich hoffe Du kommst damit zurecht.

Also behaupte ich mal kühn, dass das abendländische Denken durch eine bestimmte semiotische Grunderfahrung geprägt ist. Die Erfahrung, dass unsere Fähigkeit des Wiedererkennens so weit ausgeprägt ist, dass es möglich ist, konkrete Zeichen-Token kommunikativ als Types zu etablieren. Grunderfahrung deshalb, weil diese Erfahrung und ihre Nutzung mit dem Ergebnis des Alphabets jedem Gebrauch eines Zeichens vorausgeht. Logisch vorausgeht, nicht historisch. Die Zeichen sind immer schon, bevor man sie in Gebrauch nimmt, durch die Token-Type-Relation identifiziert und abstrahiert. Sie tragen somit immer schon die Denkwege „Identifikation“ und „Abstraktion“ als immanente Möglichkeiten mit sich herum.

Wenn es einen Unterschied zwischen Mensch und Tier gibt, dann liegt er in dem Ausmaß, in dem das Denken sich an Zeichen und Zeichengebilden orientiert und strukturiert. In der Erfahrung legt das Vorwissen um die Token-Type-Relation die Denkwege von Identifikation und Abstraktion nahe. So entsteht, im kommunikativen Handeln, das Einzelding und das Abstrakte, und schon kann man mit Sokrates fragen: Was ist die Tapferkeit?

Es ist wohl nicht sehr originell, zu sagen, dass da im Westen eine ganz bestimmte Story gelaufen ist, die mit der Token-Type-Erfahrung beginnt, im Höhlengleichnis gipfelt, und noch das letzte Gigabyte der Moderne zum Ergebnis hat. Es ist auch nichts Neues, zu sagen, dass es auch anders hätte laufen können, denn dafür gibt es ja weltgeschichtlich gute Beispiele. Aber vielleicht hätte es auch noch ganz anders laufen können, nämlich kenotisch. Das ist natürlich Spekulation, ich sage es nur der Einordnung wegen. Die interessante Frage ist, ob heute die Kenotik eine Alternative oder ein Kontrapunkt zur klassischen Semiotik werden kann.

Der Kern der Kenotik ist die semiotische Erfahrung der Begegnung. Das ist eine ganz andere Erfahrung als die Token-Type-Erfahrung. Die Kenotik setzt die Begegnung als Grunderfahrung. Die Forschungsfrage ist, ob es möglich ist, mit dieser Grunderfahrung beginnend einen Zeichengebrauch kommunikativ zu stabilisieren, der in der Lage ist, unser Handeln zu koordinieren, ohne sich dabei (primär) auf die Token-Type-Erfahrung abzustützen.

Wenn man sich auf diesen Versuch einlässt, wird sehr deutlich, in welchem Ausmaß die Token-Type-Erfahrung unser Denken prägt. Die Token-Type-Erfahrung ist uns so selbstverständlich, dass wir sie normalerweise nicht wahrnehmen. Sie kann dadurch sichtbar gemacht werden, dass man sie vor einen anderen Hintergrund stellt. Die Kenotik ist so ein Hintergrund.

Die kenotische Grunderfahrung der Begegnung ist in den drei Zeilen Kenotext am Anfang dieses Briefes codiert. Es geht los mit zwei ... ?? ja was? Eigentlich kann man gar nicht sinnvoll darüber sprechen, und wenn man es könnte, würde man vielleicht  „mögliche Etwasse“ sagen, aber das „Etwasse“ wäre zu viel gesagt. Sagen wir also einfach „Kenome“. Eine Begegnung zweier Kenome ist ein Ereignis, ein Prozess, eine Situation, in dessen Kern eine Entscheidung stattfindet. Die Entscheidung hat drei mögliche Ergebnisse: Ein gleiches Paar, ein ungleiches Paar, oder gar kein Paar. Im ersten Fall identifizieren die Kenome sich füreinander als Gleiche, im zweiten als Ungleiche. Im dritten Fall findet keine dieser beiden Arten von Ko-Identifikation statt, und es bleibt alles beim alten, also gewissermaßen kein Ergebnis.

Im kenotischen Grundereignis ist die Unterscheidung von Prozess und Ergebnis enthalten. Die Entscheidung ist der Prozess, ist sie gelaufen, so hat er ein Ergebnis. Das Ergebnis einer Begegnung von zwei atomaren Kenomen ist ein komplexes Kenom, ein Kenopaar. Komplexe Kenome sind Material für weitere Prozesse, denn sie können einander begegnen. Bei einer Begegnung zweier komplexer Kenome findet ein komplexerer Entscheidungsprozess statt. Viele Paare von Elementarkenomen müssen sich dabei ko-identifizieren.

Wie geht ein Denken, das diese Vorerfahrung hat, mit der Erfahrung im Alltag um? Die klassisch-semiotische Grunderfahrung legt uns nahe, nach atomaren Dingen Ausschau zu halten, die sich gut klassifizieren lassen. Die kenotische Grunderfahrung legt uns nahe, nach Begegnungen Ausschau zu halten. Aber dann geht die Forschungsarbeit schon los. Welcher Art ist die Beziehung zwischen zeichenartigen und andersartigen Erfahrungsinhalten? Klassisch ist es ein Verhältnis des Abbildens, aber ist das der Kenotik angemessen? Ich denke, die Vorstellung, man würde nach realen Prozessen suchen, die durch kenotische Prozesse isomorph abgebildet werden, ist vielleicht ein möglicher Forschungsansatz, im Grunde aber ein Rückfall in das klassische Denken. Vielleicht muss man eher fragen, was denn genau passiert, wenn zeichenartige Erfahrung und andersartige Erfahrung einander begegnen.

Eine wichtige Forschungsfrage ist auch die nach dem Verhältnis von Kenotik und klassischer Semiotik. Von der Kenotik her gibt es eine naheliegende Schnittstelle: Das kenotische Ereignis hat Prozess und Ergebnis, und der Zusammenhang zur klassischen Semiotik wird über das Ergebnis hergestellt. Die klassische Semiotik wäre dann eine Semiotik der Ergebnisse, die Kenotik eine Semiotik der Ereignisse.

So viel für heute. Ich hoffe es geht Dir und Elisabeth gut! Bei uns steht alles zum Besten.

Dein Rudi