München,1. 4. – 6.4. 2004

 

Lieber Karl-Heinz,

wir werden schon Umgangsformen finden, bei denen wir uns nicht dauernd gegenüber stehen und so lange voreinander verneigen, bis wir umfallen.

Vielen Dank also für Deinen ausführlichen Brief. Ich habe ihn sehr genau gelesen, und habe auch die Meditationsinstruktion befolgt. So weit ich sie verstanden habe, stimme ich Deinen Ausführungen weitgehend zu. Mit Bezug auf 7.4 möchte ich allerdings hinzufügen, dass ich jedenfalls nicht derjenige sein möchte, dessen Intentionen Du hier paraphrasierst.

1. Innen und Außen

Ich beginne meine Erwiderung, indem ich Deinen Wunsch aufgreife, etwas mehr von den logischen Spielen zu verstehen (2.0). Mein Interesse an Kalkülen ist von völlig anderer Art, als das, was Du für Dich in 1.2 als Grund für Dein Desinteresse angibst. Mich interessieren Kalküle nicht deshalb, weil sie mir nützlich wären (auch das kommt gelegentlich, sehr selten allerdings, vor) oder weil sie mir das Den­ken abzunehmen in der Lage wären (das kommt nie vor). Während meines siebenjährigen Mathematikstudiums ist es mir kaum je passiert, dass dieses Studium mir geholfen hätte, ein Problem zu lösen, das ich ohne dieses Studium auch gehabt hätte. Aber etwas anderes habe ich in diesem Studium gelernt: dass man Kalküle wunderbar dazu verwenden kann, Welten zu konstruieren, und dass man sich in diesen Welten wunderbar verlieren kann. Das Konstruieren von Kalkülwel­ten und das Sichverlieren darin hat auch etwas mit mir gemacht. Diese Erfahrung hilft mir, au­ßer­or­dent­lich gut zu spüren, was es mit Kalkülwelten auf sich hat, und wie es Leuten geht, die Kalküle zum Konstruieren von Welten und zum Sich-Darin-Ver­lie­ren verwenden.

Natürlich kann man auch ganz ohne Kalküle Welten konstruieren und sich darin verlieren. Man kann träumen, oder man kann Geschichten erfinden, einfach so in der Umgangssprache. Aber irgend etwas ist da anders. Auch das kann man nicht so leicht erklären. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Kalkülwelten so kompromisslos klar und hart sind, so unglaublich kompliziert und doch durchschaubar, so vielfältig dass man in ihnen immer wieder neue Türmchen und Erkerchen entdecken kann, dass sie unendlich sind und doch so scharfe Grenzen haben. Dass man sie ganz einfach verlassen und wieder in sie eintauchen kann. Der Matrix-Effekt, Du weißt schon. Und das als Erfahrung, ganz real, nicht wie im Film, auch nicht wie im luziden Traum. Eine Kalkülwelt bleibt ganz stabil stehen, auch wenn man zwei Wochen lang nicht drin war. Und man kann sie abwechselnd von innen und von außen betrachten, kann blitzschnell heraus und wieder hineinspringen, bis das Bild von außen mit dem Bild von innen sich zu einem überwältigenden Panorama überlagert, das auf keine IMAX-3D-Leinwand passt (so etwa muss Gödel es erlebt haben, als er auf der Suche nach seinem Unvollständigkeitssatz war).

Lass mich ein wenig ins Detail gehen, wenigstens so weit bis klar wird, wie die Innen-Außen-Dualität mit dem Kalkülbegriff zusammenhängt. Was ist eigentlich ein Kalkül? Er ist nichts das ist, sondern etwas das gemacht wird (2.1). Was muss man machen, um einen Kalkül zu erzeugen? Man braucht 1. ein Alphabet, damit einhergehend ein Verständnis von Zeichenreihe, und 2. eine Menge von Regeln zur Transformation von Zeichenreihen. Ist das Regelsystem fertig, so kann man dazu übergehen, den Kalkül zu benutzen. Das geschieht, indem man die Regeln anwendet, um Zeichenreihen zu bilden und zu transformieren. Das ist, rein formal gesehen, alles, was es über den Kalkülbegriff zu wissen gibt.

Interessant kann ein Kalkül u. a. dann werden, wenn sein Regelsystem einen Aspekt dessen nachbildet, wie wir sonst, in der Umgangssprache etwa, mit Zeichen umgehen. Es gibt einen Kalkül, der das in besonders anerkannter Weise tut, und der deshalb zum Grundkalkül der modernen Mathematik geworden ist: den Prädikatenkalkül erster Stufe (meistens als PL1 abgekürzt). Im Alltag benutzen wir Zeichen, um Entitäten zu bezeichnen. Deshalb besitzt PL1 Regeln, die es erlauben, eine bestimmte Klas­se von Zeichenreihen als Terme auszuzeichnen. Oder wir kombinieren im Alltag Zeichen auf bestimmte Weise, um so den Entitäten Eigenschaften zuzuschreiben. Deshalb besitzt PL1 Regeln, die es erlauben, gewisse Zeichen als Prädikate auszuzeichnen, und weitere Regeln, die es erlauben, Prädikate mit Termen zu etwas zu kombinieren, was dann Formel heißt. Oder wir benutzen im Alltag Zeichen, um von einzelnen Entitäten zu abstrahieren und eine ganze Klasse solcher Entitäten zu bezeichnen. Deshalb gibt es in PL1 Regeln, die es erlauben, unter den Termen zwischen Konstanten und Variablen zu unterscheiden. Oder wir benutzen Zeichen, um Eigenschaften nicht nur von einer Entität, sondern einer ganzen Klasse von Entitäten auszusagen. Deshalb gibt es in PL1 Regeln, die bestimmte Zeichen als Quantoren auszeichnen, und andere Regeln, die es erlauben, Quantoren mit variablenhaltigen Termen zu etwas zu kombinieren, das dann Aussage heißt. Alle diese Regeln zusammengenommen bilden das, was man die Grammatik von PL1 nennt. Die Grammatik macht PL1 zu einer Formalen Sprache.

Über die Grammatik schichtet man dann zwei weitere Regelsysteme, welche die Schlussweisen der Prädikatenlogik und Aussagenlogik abbilden. Damit hat man PL1 definiert. Mathematische Systeme entstehen auf dieser Grundlage dadurch, dass noch ein weiteres Regelsystem über die Grammatik und die Logik geschichtet wird, das die Spezifika der zu untersuchenden Struktur abbildet, also z.B. die Axiome[1] von Zermelo und Fraenkel, wenn man Mengenlehre kalkülmäßig untersuchen möchte, abgekürzt ZF.

Die Möglichkeit, „in ZF hineinzugehen“ hängt nun davon ab, wie gut das Abbilden von Aspekten des Gebrauchs der Umgangssprache in die formale Sprache, sowie das Abbilden des umgangssprachlichen Schließens in die formale Logik, gelungen ist. Man fängt damit an, Gedanken, die man so hat, in die Sprache von ZF zu übersetzen. Das ist anfangs äußerst mühsam, gelingt auch nicht immer so ganz, und zwingt einen oft, dies oder jenes ein bisschen anders zu denken als man eigentlich wollte, damit der Gedanke übersetzbar wird. Dann kommt eine Trainingsphase, in der man sich beinhart darauf abrichtet, seine Denkgewohnheiten an die Regeln von ZF anzupassen. Das dauert ziemlich lang. Irgendwann hat man dann den Kniff raus. Das ist wie beim Autofahren. Dann kann man, völlig entspannt, so denken, dass man sicher sein kann, dass alles Gedachte in ZF übersetzbar ist. Wenn man so weit ist, kann man beginnen, in der axiomatischen Mengenlehre zu forschen.

Ein derartiges Training absolviert zu haben, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, einen Kalkül wahlweise von außen oder von innen zu betrachten. Von außen betrachtet man ihn, wenn man einen in der Sprache von ZF vorgelegten Beweis daraufhin prüft, ob er den Regeln von ZF folgt; oder wenn man in Erwägung zieht, eine Regel ein wenig zu variieren; oder wenn man darüber nachdenkt, welche Extension die Menge aller ableitbaren Aussagen hat; oder darüber, was denn eigentlich die Signifikate der Terme von ZF sind. Von innen betrachtet man ihn, wenn man einer offenen mengentheoretischen Frage folgt und nach einem Beweis oder einem Gegenbeispiel sucht, und wenn man dabei im ZF-Modus denkt.

In meiner ersten Diss stieß ich bei der Untersuchung offener Darstellungsfragen für Topologische Vektorverbände auf eine tiefliegende Vermutung, zu der ich keinen Beweis und kein Gegenbeispiel fand. Das war der Anlass, mich genauer mit Logik und Metamathematik zu beschäftigen. So fing ich an, mit den Axiomen von ZF zu spielen. Das ist ziemlich spannend: Man geht aus ZF raus, tut ein neues Axiom dazu, dann geht man wieder rein, und siehe da: das Universum hat sich auf subtile Weise verändert. Dann geht man wieder raus, nimmt das Axiom weg, tut ein anderes hin, geht wieder rein, und wieder sieht das Universum ein bisschen anders aus. So kann es gelingen, eine Vermutung in einer Variante des Universums zu beweisen und in einer anderen Variante des Universums ein Gegenbeispiel dafür zu finden. Damit hat man bewiesen, dass im Standarduniversum (ohne die zusätzlichen Axiome) die Frage definitiv unentscheidbar ist.

In diesem Sinne hat die Innen-Außen-Dualität für mich Realität, und ich wage zu behaupten, auch für alle anderen Mathematiker, die Erfahrung in Metamathematik haben. Jetzt lese ich bei Dir noch mal nach (7.5):

Man meint, man habe da eine Theorie vor sich, doch man ist nur diese Theorie, zu der man sich nur später und deshalb als einem Ding, als zu einem Zeichen „B“ (in Deiner Abkürzung) verhalten kann, weil man – im Denkprozess – das Mittendrin-sein in B irgendwann im Denkprozess aufgegeben hat und danach mittendrin in seinem Körper ist, aus dessen Perspektive man dann auf den vergangenen Gedanken blickt, der nun vor einem auf dem Papier, dem Messprotokoll usw. steht. Mittendrin-sein in der Entität – das ist kein „Innen“, dem ein Außen gegenüberstände – auch wenn ich keine anderen Wörter als das „in-...“ verfügbar habe. (Ich könnte höchstens noch bar-do sagen, „dazwischen geworfen“.) Man kann nicht aus der Entität herausgehen, weil man nicht in ihr ist als ein Etwas in einem Etwas, sondern als das Etwas im Modus des Etwas. Es ist ein Etwas-sein, nicht ein In-sein von Etwas in Etwas. Deshalb kann das Ich nicht in die Entität rein oder raus; die Dualität innen/außen hat hier keinen Sinn. Das Mittendrin-sein hat den Modus des Existierens. Man existiert denkend als Entität, wird in sie als sie geboren. Geht man „heraus“, so stirbt dieses Ego, das denkend „drin“ war und wird als anderes im nächsten Gedanken, der nächsten Entität geboren. Das jedenfalls entspricht meiner gewonnenen Denkerfahrung.

und:

8.0 Bezüglich der Ökonomie habe ich vielleicht mit ähnlichen formalen Gedanken gespielt wie Du, allerdings etwas anderen als Deinen Strukturen der subjektiven Mengenlehre, die ich leider damals mathematisch nicht verstanden habe (vielleicht die Grundidee – man geht „rein“ und „raus“, „innen/außen-Perspektive“) Heute verstehe ich sie immer noch nicht, diesmal „erkenntnistheoretisch“ nicht – siehe 7.5: Wie kann ich „reingehen“, wenn ich die Menge denkend-existenziell bin? Ich kann nur als diese Menge M denkender Karl-Heinz oder Rudi sterben und die Kontinuität meines Namens in der Geburt eines anderen, neuen Gedankens bewahren, den ich mit „mein“ bezeichne. Und was ich dann später als „Äußeres“ betrachte, eine Menge M als Objekt, das ist nicht mehr der Modus des „ich-existiere-als-M“; „ich bin M“ und „ich beobachte M“ hat also nichts (auch nicht „M“ als Bedeutung) gemeinsam, weniger noch als die beiden Rudis: Rudi Matzka und Rudi Völler.

Das bleibt alles für mich ein wenig dunkel, und ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass wir von verschiedenen Sachverhalten reden. Natürlich setze ich bei meiner Beschrei­bung des Rein- und Rausgehens in einen und aus einem Kalkül eine durchgehende Kontinuität des Ich voraus. Aber so erlebe ich es, wenn ich mich in den überaus relativen Welten der Mathematik und Metamathematik bewege. Ebenso wie Du glaube ich nicht, dass man durch die Beschäftigung mit Mathematik oder Metamathematik etwas Wichtiges über Erkenntnis oder über Wirklichkeit oder überhaupt irgend eine Art von Wahrheit finden kann. Aber es ist etwas, das man machen kann. Können wir uns darauf verständigen?

2. Kalkül und Subjekt

Im mengentheoretischen Universum gibt es sehr viele mehr oder weniger interessante Entitäten und Strukturen zu finden, aber nichts, das irgendwie lebendig oder auch nur beweglich wäre. Das mengentheoretische Universum ist äußerst komplex, aber völlig starr. Man müsste vollständig verrückt sein, wenn man darin nach Subjekten suchen wollte. Nie würde ich auf den Gedanken kommen, Subjekte mittels eines Kalküls modellieren zu wollen. Selbst irgend eine Realität, irgend etwas Prozesshaftes so darstellen zu wollen, kommt mir völlig hirnrissig vor. Wenn die Umgangssprache so rigide wäre wie ZF, hätte Nagarjuna es mit seiner Kritik sehr leicht gehabt, und jeder hätte sie sofort verstanden.

Wo existieren eigentlich die Entitäten und Strukturen, über die man in der Sprache von ZF redet? Diese Frage kann natürlich innerhalb ZF nicht gestellt werden. Aber sie wird in der Metamathematik gestellt, etwa wenn es um die Frage geht, ob ZF widerspruchsfrei ist. Wenn man ein existierendes Universum finden würde, das sich als Signifikat (Modell) für die Sprache von ZF eignen würde, wäre damit die Widerspruchsfreiheit bewiesen. Was heißt das, wenn man in der Metamathematik von einem existierenden Universum spricht? Ganz einfach, man benutzt Zeichenreihen, um Strukturen und Universen zu konstruieren. Eine Struktur existiert, wenn man sie mittels Zeichenreihen konstruieren kann. Auf diese Weise findet man für viele Kalküle Modelle, aber nicht für ZF, denn wie man weiß (Gödel), lässt sich dessen Widerspruchsfreiheit nicht beweisen.

Man kann also mit Recht sagen, die Entitäten und Strukturen, über die man in ZF spricht, existieren nicht aus sich heraus, sondern sie werden ausschließlich durch die Regeln der Sprache und der Logik von ZF (und natürlich durch den Geist des Mathematikers, der sich diese Regeln zu eigen macht) erzeugt. Mathematik ist Idealismus pur.

Du kannst Dir vielleicht vorstellen, dass ich etwas verwirrt war, als ich nach meiner Mathe-Diss mich ganz plötzlich unter Volkswirten wiederfand. Die redeten irgendwie Mathematik, verwendeten dabei aber einen bis zur Unkenntlichkeit vereinfachten Dialekt von ZF, und wussten alle ganz genau, was das für (ökonomische! also reale!) Entitäten sind, über die sie da in der Sprache der Mathematik reden. Und einige dieser Entitäten waren Subjekte. Das machte mich ziemlich stutzig, und auch hilflos.

Als erstes stellte ich mir also die Frage, wie denn die Terme im Kalkül und die durch sie bezeichneten Entitäten überhaupt zueinander kommen können, wenn die Entitäten nicht, wie in der Metamathematik, aus Zeichenreihen gemacht sind. Ich sah keinen anderen Weg, als dass irgend jemand, der einen Körper hat, die Entität wahrnimmt (wie auch immer das im einzelnen abläuft – das war nicht Gegenstand meiner Überlegungen), und eine Referenzbeziehung zwischen Term und Entität herstellt. Alle taten aber so, als wären die Referenzbeziehungen zwischen Termen und Entitäten irgendwie gegeben. Also fand ich es nötig, darauf zu bestehen, dass es immer ein Jemand ist, der eine Referenzbeziehung herstellt, ein Subjekt. Und ich fand auch wichtig festzuhalten, dass dieses Subjekt, wenn es schon so was Blödes macht, dann auch in der Verantwortung steht für das, was es gemacht hat. Deshalb habe ich das Herstellen einer Referenzbeziehung zwischen einem Term und einer Entität als Setzen eines Axioms aufgefasst, denn die Axiome sind in der Metamathematik etwas, das man einfach (und ohne eine Rechtfertigung abgeben zu müssen) beschließt. Der Unterschied zwischen diesen von mir eingeführten Axiomen und den normalen mathematischen Axiomen ist der, dass erstere an die Körperlichkeit eines Subjekts gebunden sind. Das war der Anfang der Subjektiven Mengenlehre.

Den Zusammenhang zwischen Subjekt und Kalkül konnte ich nie anders denken als so, dass ein Subjekt einen Kalkül erzeugt oder benutzt. Also habe ich ökonomische Theorieelemente immer daraufhin untersucht, welche Kalküle darin den Wirtschaftssubjekten als deren Weltbeschreibungen zugestanden werden. Das Ergebnis war meistens sehr enttäuschend: Alternativenmenge + Ordnungsrelation + Maximierungsregel, basta. So gesehen ist Dein Ansatz (8.1) ein gewaltiger Schritt nach vorn, da sind die Wirtschaftssubjekte immerhin so intelligent wie die Wirtschafts­wis­sen­schaftler. Ob das die letzte Stufe in der Evolution der Wirtschaftssubjekte ist, muss man abwarten.

Aber da fällt mir ein, gab’s so was nicht schon mal? Ich kann mich dunkel an etwas erinnern, das „Theorie der rationalen Erwartungen“ hieß. Daran hat mich immer gestört, dass die Theorie des Wirtschaftstheoretikers, wie alle Theorien, eine hochgradig eingefärbte Sicht des Weltprozesses darstellt, und dass man darin auch noch ganz selbstverständlich unterstellt, die Wirtschaftssubjekte würden, wenn sie nur die nötige Intelligenz haben, just die selbe hochgradig eingefärbte Sicht des Weltprozesses entwic­keln. Ob diese Kritik auch auf Deinen Ansatz zutrifft, kann ich so, ohne ihn zu kennen, nicht beurteilen. Ob man nur den Kalkülen Namen gibt, und dadurch die Benennung von Subjekten vermeidet, oder ob man die Subjekte benennt, kommt mir eher nebensächlich vor.

Im Rückblick betrachtet war meine Subjektive Mengenlehre eine ganz private Ontologie, die ich aus der Erfahrung des Bardos zwischen Mathematik und VWL heraus entwickelt habe (obwohl ich damals nicht wusste, was eine Ontologie ist). In dieser Ontologie gab es zwei Arten von Dingen: Kalküle und Subjekte. Sonst nichts. Subjekte verfügen über Kalküle. Was immer sonst an Entitäten herumfleucht, entsteht nur deshalb, weil die Kalküle eine Semantik brauchen, und die Existenz solcher Entitäten muss von dem Subjekt, das für den Kalkül zuständig ist, verantwortet werden. Wenn zwei Subjekte einander begegnen, so fangen sie miteinander stets einen neuen Kalkül an, in dem all die Entitäten existieren, über deren Existenz sie Konsens haben. So wird jede Gruppe von Subjekten zum Kalkülbenutzer, und damit zum Subjekt. Jedes Subjekt weiß, dass das andere Subjekt über einen Kalkül verfügt, und kann deshalb seine Annahmen über die Axiome des anderen Subjekts in seinem eigenen Kalkül als Axiome festhalten. An dieser Stelle kommen die sprachlichen Mittel ins Spiel, die im Zusammenhang mit dem Gödelbeweis entwickelt wurden, um in einem Kalkül über einen anderen Kalkül sprechen zu können. So kommt auch die Innen-Außen-Story aus der Metamathematik in meine alte Ontologie hinein.

Das ist alles lange her, es hat mir geholfen, bestimmte Aspekte des Gebrauchs von Sprache und der Entstehung von Entitäten am Beispiel von Formalsprachen sehr pointiert zu verstehen, aber als Ontologie taugt es, zugegeben, nicht viel. Wie ist die ganze Sache überhaupt in unsere Diskussion um Naturwissenschaft und Buddhismus hinein geraten? Der Anlass war, dass Du mir in dem Brief vom 27.3. mein schönes Worin der Logik (die alte Erkenntnistheorie) wegnehmen und durch Dein eigenes Worin der Logik (Sprache und Dialog) ersetzen wolltest. Autsch! Durch die Einführung einer Standpunktunterscheidung wollte ich, als Vorschlag zur Güte, eine Koexistenz von Deinem und meinem Worin ermöglichen. Da hast Du nicht mitgespielt, also vergiss es bitte wieder. Ich werde versuchen, das, was ich sagen wollte, anders zu sagen. Auch da kann man natürlich jede Menge Sand reinstreuen, und ich bitte Dich ausdrücklich, es zu tun (Dein Sand hat auf mich eine ausgesprochen reinigende Wirkung), aber vielleicht kommt ja im Zwischen der Zugänge noch etwas anderes rüber als bei einem einzigen Zugang für sich genommen.

3. Wissenschaft und Subjektivität

Innen und Außen spielen ja in anderem Sinn im Dharma durchaus eine Rolle. Zum Beispiel fallen mir die Belehrungen von Sogyal Rinpoche ein, in denen er uns erklärt hat, dass das tibetische Wort für Buddhist „Nangpa“ heißt, mit der Bedeutung „Jemand, der die Wahrheit nicht außen, sondern innen sucht“. Damit konnte ich etwas anfangen. Und ich fand, dass das eine Botschaft ist, die für uns Westler in besonderem Maße einschlägig ist, weil ich bis dahin Wahrheit immer in der Wissenschaft gesucht hatte, und weil ich das innen-suchen-von-wahrheit in dem, was ich als Wissenschaft kennen gelernt hatte, nicht angetroffen hatte. Im Gegenteil, mein Eindruck war, dass die Wissenschaften, so weit sie mir zugänglich waren, durchaus nach Wahrheit suchen, dass sie dies aber eher außen tun als innen. Und, so war mein Eindruck, am deutlichsten unter allen Wissenschaften ist diese Tendenz in der Physik ausgeprägt. Dies kam mit einem anderen Eindruck zusammen, dass die Physik als so etwas wie eine Leitwissenschaft unter allen Wissenschaften angesehen wird. Daraus resultierte bei mir („je außen desto Wissenschaft“) der Gesamteindruck, dass die Wissenschaft tendenziell eine Anti-Nangpa-Veranstaltung ist. Dieser Eindruck ist mir bis heute geblieben. Bei B. A. Wallace, The Taboo of Subjecitivity, OUP 2000, findet man eine ähnliche Diagnose sehr schön ausbuchstabiert.

Was folgt daraus? Man könnte sich sagen, na gut, wenn ich Wahrheit suche, ist die Wissenschaft der falsche Ort dafür, Wahrheit muss ich auf meinem Sitzkissen suchen. Das ist sicher eine sehr richtige und nützliche Konsequenz. Und wenn man sich dazu berufen fühlt, kann man darüber hinaus versuchen, der Wissenschaft zu sagen, dass (und warum im Einzelnen) sie auf ihren Wegen keine Wahrheit finden wird, sondern sich nur im Kreise drehen kann. Das ist Wissenschaftskritik, und so weit sind wir uns, glaube ich, noch einig.

Jetzt blättere ich noch mal im Zirkel des Wissens, und wenn ich das richtig interpretiere, geht Dein Rat an die Wissenschaftler eher in die Richtung, es doch lieber zu lassen. Das Wort „Lassen“ kommt in den Instruktionen, die ich als Fazit Deiner Analysen gelesen habe, jedenfalls öfters mal vor. Bitte widersprich mir heftig, wenn ich falsch liege.

Wallace zieht eine andere Konsequenz. Er sagt, die Wissenschaft schränkt sich selbst ein, indem sie nur außen sucht. Sie hat sich gewissermaßen selbst Scheuklappen angelegt, die ihren Blickwinkel auf eine Richtung, eben nach außen, einschränken. Wenn man diesem Bild glaubt, ist der Rat an die Wissenschaft natürlich ein anderer: nehmt doch bitte einfach die Scheuklappen ab, und wendet den Blick abwechslungshalber auch mal nach innen. Wallace macht denn auch gleich ein Großprojekt daraus: Toward a New Science of Consciousness, so der Untertitel seines Buches.

Mir geht es so, dass ich mit der Analyse von Wallace durchaus sympathisiere, und auch seinen Reformimpuls kann ich gut verstehen. Ja, Wissenschaft sucht Wahrheit (ich glaube jedenfalls dass das anfangs so war, und dass es immer noch Wissenschaftler dieser Sorte gibt), und wenn das so ist, und wenn man (als Wissenschaftler) etwas gesehen hat, das dieser Wahrheitssuche im Wege steht, warum dann nicht versuchen, die Blockade zu beseitigen und der Wissenschaft damit neue Wege zu öffnen?

Dagegen lässt sich sehr viel einwenden, zum Beispiel:

Ich glaube nicht „an die Wissenschaft“, deshalb auch nicht an ihre „Reformierbarkeit“ – nach dem Motto: „Buddhistische Logik, Physik, Psychologie usw.“ (Die „buddhistische Logik“ ist, so interpretiere ich das, eine Kritik am Denken in Entitäten. Nicht mehr, aber auch ganz und gar nicht weniger.) Die westlich entstandene Wissenschaft ist eine Methode der Herrschaft über die Natur und die Menschen, die sie auf Berechenbarkeit hin stellt (das ist Heideggers Ausdrucksweise), einfacher, die völlig von den drei Giften Gier, Hass und Verblendung gelenkt wird. Diese drei Gifte heißen nach meiner Überzeugung in der Gegenwart: Geldgier (Profitmaximierung), Konkurrenz und Geldillusion (= Unterwerfung unter den universellen Maßstab der Berechenbarkeit für die Geldgier). Die Wissenschaften sind institutionell inzwischen völlig diesen Zielen subsumiert; die großen Denker in ihren Reihen, die noch in der wissenschaftlichen Sprache nach „Wahrheit“ suchten, sterben aus oder sind bereits tot. Whitehead ist hier ein schönes Beispiel: Er hat bemerkt, dass er zur Metaphysik zurück muss, wenn er Wahrheit finden will. Weil ich diese ganze historische Struktur so sehe, weil für mich Verblendung nicht einfach ein Ego-Spielchen ist, sondern eine grausame globale Wirklichkeit, deshalb denke ich, dass sich die Kritik der Wissenschaften als Hauptaufgabe für die Buddhisten herauskristallisiert hat.

Lassen wir mal offen, ob Wissenschaft als Wahrheitssuche schon tot ist oder ob noch ein Fünkchen Leben drin ist. Whitehead hat auch in seiner metaphysischen Zeit noch in der Wissenschaft mitgemischt, und hat eine eigene Variante der Relativitätstheorie entwickelt, die vor allem interpretatorisch, aber auch mathematisch von Einsteins Theorie abwich. Verblendung ist eine grausame globale Wirklichkeit, sehr wahr, und deshalb reicht es nicht aus, wenn jeder für sich auf seinem Sitzkissen Gier, Hass und Verblendung entgegenwirkt. Nein, auch ich will keinen moralischen Ton in unseren Diskurs bringen. Aber wenn es irgend eine Chance gäbe, auf überindividueller Ebene den Blick nach innen zu wenden und die Mechanismen von Gier, Hass und Verblendung auf eine irgendwie gemeinsame, nicht nur individuelle Weise zu durchschneiden, dann wäre es doch sehr schade, einer solchen Spur nicht zu folgen. Ob Wissenschaft ein Kontext ist, in dem solches geschehen kann, oder ob man solches, wenn es geschähe, Wissenschaft nennte, sei mal dahingestellt.

Buddhistische Logik ist Kritik am Denken in Entitäten. Wissenschaft ist ohne Denken nicht denkbar. Also stellt sich für mich die Frage: Gibt es ein anderes Denken, das kein Denken in Entitäten ist? Blöde Frage, vielleicht, aber es ist erst mal ein Spiel, lass es mich ein wenig spielen. Vielleicht macht es Dir Spaß, und Du bekommst Lust, mitzuspielen. Mit einer vollen Kirche kann ich allerdings nicht dienen.

4. Zeichen ohne Identität

Jetzt kommt Gotthard Günther ins Spiel. Wie Wallace möchte er gern das wissenschaftliche Tabu der Subjektivität brechen, wiewohl seine Motivation natürlich keine buddhistische ist. Auch er kritisiert das Denken in Entitäten, nennt es aber anders. Bei ihm heißt es Identitätsprinzip. Seine Strategie ist eine Vermehrung und Verschränkung von Logiken, mit dem Ziel, dass Identität (oder Entitäten) zwar als lokales Phänomen, quasi intralogisch, vorkommt, aber nicht global. Globales darf es in seinem System überhaupt nicht geben, auch keinen globalen Standort, von dem aus sich das System entwerfen oder beschreiben oder operieren ließe. Insbesondere darf das System nicht in die Umgangssprache als oberste Metasprache eingebettet sein.

Worin ist es dann eingebettet, wenn nicht in die Umgangssprache? Günthers Antwort auf diese Frage ist das, was mich an seinen Texten am meisten interessiert, obwohl ich nicht glaube, dass es eine Antwort auf seine Frage ist. Seine Antwort heißt Kenogrammatik. Ich rekonstruiere das als eine Non-Standard-Semiotik und nenne sie Kenosemiotik.

Wie sich aus meiner oben angegebenen Beschreibung des Kalküls PL1 ergibt, wird dabei der Begriff der Zeichenreihe vorausgesetzt. Die Theorie des Begriffs der Zeichenreihe nenne ich „Semiotik“ (ich weiß, dass der Begriff auch andere Bedeutungen hat). Auch die Semiotik kann als ein Regelsystem aufgefasst werden, dieses wird aber bei der Definition des Kalkülbegriffs meistens als völlig selbstverständlich vorausgesetzt. Die Semiotik ist also so etwas wie eine ungedachte Voraussetzung der formalen Logik. Nun geht es darum, den Begriff „Zeichenreihe“ zu verändern. Oberhalb einer so veränderten Semiotik macht der klassische Kalkülbegriff erst mal überhaupt keinen Sinn mehr. Das wiederum sieht Günther überhaupt nicht, und deshalb empfinde ich seine ausufernde Logik-Rechnerei, noch mehr bei seinem Schüler Rolf Kaehr, als weitgehend daneben.

Normalerweise besteht eine Zeichenreihe aus Zeichen, z.B. „Baum“. Nun wird es wichtig, zwischen dem Token und dem Type eines Zeichens zu unterscheiden. Das Token ist die konkrete Gestalt auf dem Papier, der Type ist das Abstraktum aller Tokens mit der „gleichen“ Gestalt. (Die Fähigkeit zum Erkennen der Gleichheit zweier Zeichengestalten wird bei dieser Diskussion als unproblematisch vorausgesetzt). Die Menge der Types nennt man Alphabet.

Wie stellen wir die Gleichheit zweier Zeichenreihen fest? Wir gehen beide Zeichenreihen simultan Position für Position durch und prüfen, ob an jeder Position gleiche Zeichen stehen. Diese Regel wird nun durch eine andere ersetzt: Gehe simultan jedes Paar von Positionen durch, und prüfe

            oder

Wird für alle Positionenpaare Gleichheit festgestellt, so sind die beiden Zeichenreihen gleich, sonst sind sie verschieden.

Zum Beispiel sind „ABB“ und „BCC“ kenosemiotisch gleich. „Hans“ und „Karl“ sind gleich, aber „Otto“ und „Elke“ sind verschieden. Klar?

Das ist schon alles. Jetzt kann man fragen: Wie groß ist das Alphabet? Etwas genauer gefragt: Wie viele Zeichenreihen der Länge 1 gibt es? Die Antwort ist natürlich Eins. Das Alphabet schnurrt also in gewissem Sinn auf einen einzigen Type zusammen. Anders gesagt, die Token haben keinen Type. Jedenfalls nicht in irgend einem globalen Sinn. Die Frage nach Gleichheit oder Verschiedenheit von Atomen kommt überhaupt nur im Kontext einer Zeichenreihe auf, als Frage nach Gleichheit und Verschiedenheit zweier Token darin, und hat zwischen zwei Zeichenreihen keine Relevanz.

Interessant wird es, wenn man zwei Zeichenreihen konkateniert. Vielleicht magst Du selber mal ein wenig damit experimentieren.

Auch ich habe nicht alles von Dir aufgegriffen, aber eines Tages wir werden schon noch bis zur Physik vordringen.

Mit herzlichen Grüßen

Rudi

 



[1] In der Exposition des Kalkülbegriffs habe ich der Einfachheit halber die Axiome unter die Regeln subsumiert. Eine Regel hat die Form a,b,... à z (wenn die Zeichenreihen a,b,... vorliegen, schreibe Zeichenreihe z). Ein Axiom ist der Spezialfall davon, dass a leer ist: à  (schreibe Zeichenreihe z).