München, 26. 02. 2004

 

Lieber Karl-Heinz,

da muss ich wohl zugeben, dass ich mich für Hirnforschung bisher nicht besonders interessiert habe. Direkt zur Sache: Entscheidungsprozesse sind ziemlich komplex, und ich gehe davon aus, dass einem normalen Geist wie zum Beispiel dem meinen nur ein kleiner und später Ausschnitt aus derartigen Prozessen bewusst wird. Wie oft habe ich schon über einem zu entscheidenden Problem gebrütet, hin und her überlegt und Gründe abgewogen, und wenn ich dann einmal Ruhe gegeben und mich still in eine Ecke gesetzt habe, wurde ganz schnell klar, dass die Sache in Wahrheit längst entschieden war. Und wenn jemand von mir im Nachhinein verlangt hätte, zu sagen, wann die Entscheidung tatsächlich gefallen ist, ich hätte es nicht gekonnt. Aber ich würde es völlig absurd finden, daraus zu schließen, dass ich keinen freien Willen hätte, oder dass ich für meine Entscheidung nicht verantwortlich wäre.

Wenn Libet seine VP bittet, den Zeitpunkt des Entschlusses zum Knopfdruck anzugeben, so kann die VP doch wohl nur versuchen, den Zeitpunkt anzugeben, zu dem ihr bewusst geworden ist, dass sie den Entschluss gefasst hat. Im übrigen hat, wie Du ja auch angemerkt hast, das ganze mit Entscheidung herzlich wenig zu tun, denn dass die VP den Knopf drücken würde, war ja von anfang an entschieden, es war Bestandteil der Versuchsanordnung. Der psychische Druck zum Knopfdrücken stieg allmählich an, irgendwann entlud dieser Druck sich in der Handlung, und das Messgerät hat früher als die VP bemerkt, wann es so weit war. So what? Interessant wäre es, die VP für 3 Wochen auf ein Vipassana-Retreat zu schicken, und den Versuch dann zu wiederholen. Vielleicht fällt der Wettlauf zwischen Bewusstsein und Messgerät dann andersherum aus.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich möchte nicht als Besserwisser auftreten, und ich denke auch, dass wir uns in der grundsätzlichen Bewertung des Versuchs einig sind. Ich habe meine Interpretation des Libet-Versuchs hier nur zum besten gegeben, um deutlich zu machen, dass ich ihn nicht sonderlich interessant finde. Da aber viele andere ihn interessant finden, muss es wohl so sein, dass ich etwas daran nicht richtig verstehe. Besonders irritiert bin ich von deiner Aussage im Anschluss an das Dalai-Lama-Zitat: „Ist nun Libet’s Versuch solch ein Beweis [dafür, dass es ohne das Gehirn keinen Geist gibt]? Die Hirnforscher sagen das.“ Da habe ich nun überhaupt keine Idee, wie man sowas begründen könnte. Und weiter: „...und leider kann ich an der dualistischen Argumentation bei Geshe Rabten keinen Gedanken erkennen, der diesen Hinweis entkräften würde.“ Ich würde ich gern wissen, wie diese Argumentationskette (von Libet’s Knopf zu „ohne Hirn kein Geist“) aussieht. Muss ich dazu die schrecklichen Bücher von Roth und Singer lesen?

Die Sache mit dem Rückdatieren und Penrose ist mir natürlich so auch nicht zugänglich, aber ich stimme dir zu, wir sollten uns über die Quantenphysik mal auseinandersetzen. Das Buch von Zeilinger habe ich soeben bestellt.

Nun zu meinen etwas zweifelhaften Ausführungen über den Dualismus. Offenbar ist es mir sehr gründlich misslungen, rüberzubringen, worum es mir geht. Ich bin Dir sehr dankbar dafür, dass Du mich zwingst, mich deutlicher auszudrücken. Natürlich liegt es mir fern, die Leistung von Descartes irgendwie zu schmälern, oder gar ihn zum Beelzebub der Moderne zu erklären. Den Vorwurf, dies getan zu haben, habe ich wohl durch die Nennung des Begriffspaares „Res Cogitans / Res Extensa“ auf mich gezogen. Du hast im Zusammenhang mit Descartes noch ein anderes Extrem erwähnt, das man auch vermeiden solle, hast aber dann nicht verraten, welches. Das volle Ausmaß meiner Schuld ist mir also noch gar nicht bekannt. Wahrscheinlich war das Begriffspaar ein Fehlgriff im Hinblick auf das, was ich ausdrücken wollte. Ich bitte Dich und Descartes deshalb um Vergebung.

Inzwischen glaube ich, dass sich da in meinen Gedanken zwei Dichotomien vermischt haben, die man wohl besser auseinander halten sollte. Das eine ist die Dichotomie von Geist und Materie, das andere die Dichotomie von wissenschaftlichem Subjekt und wissenschaftlichem Objektbereich. Diese Vermischung hat jedoch, bei geneauerem Hinsehen, einen Hintergrund: Ich bin in der Tat der Meinung, dass im Kontext der Physik (oder allgemeiner, im Kontext jeder Theorie, die in ihrem Kern mathematisch formuliert ist) diese beiden Dichotomien zu einer einzigen Dichotomie kollabieren. Ich beobachte, dass mir dieser Kollaps ganz selbstverständlich erscheint, und dass ich große Schwierigkeiten habe, ihn zu begründen.

Das hängt vermutlich mit meinem jahrelangen Studium der Texte von Gotthard Günther zusammen. Die Philosophie Günthers nimmt ihren Ausgangspunkt in etwas, das er „Sinnanalyse der klassischen Logik“ nennt. Die Tatsache, dass diese Logik genau zwei Werte hat, ist demnach kein Zufall, sondern hat damit zu tun, dass das „Worin“ der Logik, das, worin die Logik operiert, eine bipolare Struktur ist: die Struktur einer direkten Opposition von logischem Subjekt und logischem Objekt. Die logischen Werte Wahr und Falsch sind also, ihrem Sinn nach, das Ergebnis einer strukturellen Verschiebung aus der Subjekt-Objekt-Opposition, in der die Logik operiert, ins Inhaltliche der Logik. Das Wahre korrespondiert dabei mit der Seite des Objekts, während Falschheit ihre Quelle im Subjekt hat. Folgt man diesem Gedanken, so enthalten auch die Axiome der Logik einen tieferen Sinn: der Satz vom verbotenen Widerspruch verbietet demnach jegliche Überlappung von Subjekt und Objekt, und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten meint in Wirklichkeit, dass es neben dem logischen Subjekt und dem logischen Objekt nichts Drittes gibt.

Die erstaunliche Konseqenz dieser Sinnanalyse ist nun, dass das Denken, so lange es sich im Rahmen dieser Logik bewegt, keine anderen Freiheitsgrade zur Verfügung hat, als die einfache Reflexionsdistanz des Subjekts von seinem Objekt. Weder eine Reflexion auf das Ich, noch die Vorstellung einer Ich-Du-Relation, noch irgend eine andere Art von Subjektivität (außer eben derjenigen, die sich dem Objekt direkt gegenübersieht) hat innerhalb dieser Logik Platz. Innerhalb dieser Logik bleibt jegliche Subjektivität auf die Subjekt-Seite der Subjekt-Objekt-Opposition beschränkt, und auf der Objekt-Seite kann keine Spur von Subjektivität vorkommen. Kommen wir nun auf die Dichotomie Geist / Materie zurück: Entweder Geist ist etwas, das wesentlich mit Subjektivität zu tun hat – dann koinzidiert es mit dem logischen Subjekt und kann im Objektbereich nicht vorkommen – oder Geist ist etwas, das nicht wesentlich mit Subjektivität zu tun hat, dann kann es im Objektbereich vorkommen. Für das, was ich mit Geist meine, trifft das Erstere zu. Und vermutlich auch für das, was Descartes mit Res Cogitans meinte.

Wohlgemerkt, das gilt im strengen Sinne nur dann, wenn man sich vollständig innerhalb der Logik bewegt. In unserem Alltagsbewusstsein und bei normalem wissenschaftlichem Argumentieren tun wir das nicht. Aber es gibt eine Methode, die strenge Einhaltung der Logik in komplexeren Gedankenstrukturen zu erzwingen: die Mathematik. Und die Physik ist in ihrem Kern eine mathematische Gedankenstruktur. Also ist sie in ihrem Kern der Logik unterworfen, und folglich ist ihr Objektbereich flach, irreflexiv, frei von Subjektivität oder Geist. Natürlich ist Physik nicht nur Mathematik, und natürlich ist Naturwissenschaft nicht nur Physik, aber der Kern der Naturwissenschaft ist ein mathematischer, und dieser Kern definiert den kategorialen Status des Objektbereichs der Naturwissenschaft.

Jetzt weiß ich natürlich nicht, was Du von diesem Gedankengang hältst. Ich weiß, dass Du von Günther nicht viel hältst, und auch ich finde vieles bei Günther recht spekulativ und verquast. Aber es gibt ein paar Punkte, an denen er mich überzeugt hat, und die Sinnanalyse der Logik ist so ein Punkt. Lange bevor ich Günther las, hatte ich eine Ahnung, die in die gleiche Richtung ging, als ich nämlich anlässlich meiner zweiten Dissertation beschloss, die Verhandlungstheorie von Nash – Zeuthen – Harsanyi einer kritischen Analyse zu unterziehen. Ist es möglich, so war meine Frage, den Prozess der Austragung eines Interessenkonflikts zwischen zwei rationalen Subjekten mathematisch zu erfassen? Die Intuition sagte mir „Nein“. Natürlich kann man eine solche allgemeine negative Aussage nicht beweisen, aber immerhin konnte ich zeigen, dass das von Zeuthen und Harsanyi beschriebene Spiel zwar zur Nash-Lösung konvergiert, dass aber die Entscheidungssituationen der Spieler in diesem Spiel nicht solche sind, in denen die voraussetzungen für rationales Handeln gegeben wären.

Klar, das ist nicht mehr als ein untergeordnetes Indiz, und dennoch steht für mich fest, dass innerhalb einer mathematisch formulierbaren Theorie weder Reflexion noch Kommunikation noch Subjektivität noch Geist irgendwie angemessen thematisiert werden können. Geist hat für mich wesentlich mit Reflexion zu tun. Ich kann Geist nicht verstehen, ohne etwas in mir zu verstehen. Und die der Mathematik zugrunde liegende Logik stellt für derartige Reflexionsvorgänge keinerlei Operatoren zur Verfügung.

Die Physik besteht auf der strikten Objektivität ihres Gegenstandsbereichs, und Günthers Sinnanalyse der Logik macht deutlich, warum es nötig ist, das zu tun. Die Physik blickt tief in ihren Gegenstandsbereich hinein, und wo sie am tiefsten blickt, in der Quantenphysik nämlich, wird deutlich, dass die Ausschließung der Subjektivität nicht konsistent durchgehalten werden kann. Die einfache Opposition von Subjekt und Objekt ist kein schlechter Ausgangspunkt für eine Wissenschaft von der Natur. Ist diese Wissenschaft aber weit genug vorgedrungen, so kommt der Moment, wo das Festhalten an der einfachen Subjekt-Objekt-Opposition kontraproduktiv wird. Gibt man diese aber auf, dann muss man auch die klassische Logik als letzte Instanz der Exaktheit aufgeben. Das aber ist ein Problem, denn wir haben keine andere Logik als die klassische, und wenn wir die Logik aufgeben, öffnen wir dem Anything Goes und der esoterischen Postmoderne Tür und Tor. Hat der Buddhismus da vielleicht etwas dagegenzusetzen?

Damit genug für heute. Mit herzlichen Grüßen,

Dein Rudi