München, 25. Februar 2006

 

Lieber Herr Hermann,

für den Hinweis auf Jaspers’ Ausführungen über Nagarjuna bin ich Ihnen sehr dankbar. Damit ist doch immerhin eine Diskussionsgrundlage vorhanden, auf der wir uns über die buddhistische Philosophie auseinander setzen können, wenn ein solcher Wunsch denn bestehen sollte. Auf Ihrer Seite vermute ich ein eher entferntes Interesse an diesem Thema, vermittelt über die Bezüge zu Whitehead, vielleicht auch vermittelt über Ihre theologische Vergangenheit. Einführend will ich ein wenig von der Geschichte meines Interesses an der buddhistischen Philosophie erzählen.

Mein Interesse als Erwachsener an Philosophie entzündete sich an einer negativen Erfahrung, die ich im Kontext der mathematischen Wirtschaftstheorie machte. Die Kompromisslosigkeit des Denkens, die ich in der reinen Mathematik gelernt hatte, wollte ich in den wirtschaftstheoretischen Anwendungen der Mathematik ebenfalls entfalten. Dabei scheiterte ich kläglich und verlor jede Kommunikationsfähigkeit mit den wirtschaftstheoretischen Kollegen. Das Problem war der Zusammenhang zwischen den mathematischen Modellen und der ökonomischen „Wirklichkeit“. Die Kollegen pflegten in dem mathematischen Modell über die Wirklichkeit zu denken und zu sprechen, wodurch die Differenz zwischen Modell und Wirklichkeit restlos unter den Tisch fiel. Ich dagegen bestand auf der Differenz zwischen Modell und Wirklichkeit und wollte Genaueres über den Zusammenhang zwischen beiden erfahren, worauf die Kollegen sich aber nicht einließen. Meine Diskussionsbeiträge wurden immer als störend empfunden.

Daher begann ich über den Zusammenhang zwischen mathematischen Termen und Erfahrungsdaten nachzudenken. Leider fand ich damals keine wirklich einschlägige Literatur, so dass ich in meiner Hilflosigkeit aus eigener Kraft philosophieren musste. Das Ergebnis meiner Überlegungen war, dass die von den Kollegen naiv vorausgesetzte Referenzbeziehung zwischen den mathematischem Termen und den ökonomischen Gegenständen letztlich unhaltbar war, und mehr noch, dass irgend eine Referenzbeziehung zwischen mathematischen Termen und wirklichen Gegenständen grundsätzlich nicht begründbar ist. Wohl lassen sich solche Referenzbeziehungen praktisch herstellen, aber dann braucht es spezifische Gründe, warum die Referenzbeziehungen gerade so und nicht anders geknüpft werden, und diese Gründe müssen sich aus den Zwecken ableiten, denen das jeweilige theo­re­tische Unterfangen dient. Und: die Referenzbeziehungen müssen vom Urheber der Anwendung einer Theorie nicht nur hergestellt werden, sondern auch aufrecht erhalten, intersubjektiv kommuniziert, und verantwortet werden.

Die Art, wie ich zu dieser Einsicht kam, war eine Mischung aus Denken und Kontemplation. Ich kann mich an einen Tag erinnern, an dem ich viele Stunden vor einer Kerze saß und über die einfache Frage nachdachte, ob die Flamme dieser Kerze sich als Referent für eine Konstante eignet, die in irgend einer mathematischen Theorie vorkommen mag. Bis dann das Ergebnis auf der Hand lag: Selbstverständlich ja, wenn diese spezielle Referenzbeziehung für mich nützlich ist, und wenn die Dauer ihrer Anwendung die Dauer der Kerzen­flam­me nicht übersteigt (wofür die Verantwortung bei mir läge). Selbstverständlich nein, wenn ich versuchen würde, die Anwendung der Theorie mit anderen Personen zu teilen, insbesondere mit solchen Personen, die nicht das Privileg hatten, in der Präsenz dieser spezielle Kerzenflamme zu sein. Ähnlich verfuhr ich mit Variablen, mit Prädikaten, Funktionen etc., bis die oben formulierte Einsicht sich gedanklich und erfahrungsmäßig stabilisiert hatte. Da ich mir diese Einsicht selbst erarbeitet und von allen Seiten abgeklopft hatte, gewann sie den Charakter eines Wissens jenseits von Zweifel. Das mag in den Ohren eines Skeptikers verdächtig klingen, aber so war meine Erfahrung.

Anders gesagt: die Semantik mathematischer Terme ist gültig nur relativ zu einem spezifischen Personenkreis in einem spezifischen Kontext, und sie muss von diesem Personenkreis für diesen Kontext verantwortet werden. In der Regel werden es wohl gemeinsame Zwecke der Theorieanwendung sein, welche diesen Personenkreis hinter der Theorie vereinen und das Tragen der Last dieser Verantwortung motivieren, aber schon das ist eigentlich egal, es geht mich nichts an, es ist die Sache dieses Personenkreises. Meine Sache ist es nur dann, wenn ich selbst eine Referenzbeziehung herstelle oder von anderen übernehme. Und da ich mir die Zwecke der Wirtschaftstheorie damals nicht zu eigen machen konnte, gab es für mich keine Gründe, dergleichen zu tun. Damit war ich natürlich aus der Wirtschaftstheorie draußen, was dann auch dazu führte, dass ich die Universität verließ und zu Siemens ging.

Es gibt keinen Grund, warum das, was für formalsprachliche Terme gilt, für die Ausdrücke der Umgangssprache nicht gelten sollte. Bei den mathematischen Termen ist es nur leichter zu sehen, weil man dann die Umgangssprache als Metasprache zur Verfügung hat, in der die Distanzierung von der Semantik der Formalsprache sich gedanklich vollziehen kann. Als mir diese naheliegende Generalisierung meiner ursprünglichen Einsicht zu Bewusstsein kam, erlebte ich eine Phase großer Verwirrung. Plötzlich begann ich an allem zu zweifeln, was ich bis dahin gelernt zu haben glaubte. Mir wurde klar, dass ich vieles nur deshalb für wahr hielt, weil ich es von anderen Menschen gehört hatte, und dass ich noch einmal von vorn würde anfangen müssen, wie ein Säugling, und alles selbst nachprüfen. In dieser Zeit hörte ich zum ersten mal buddhistische Vorträge, und spürte sofort, dass hier meine geistige Heimat war.

„Das ist der radikale Grundgedanke: sich von allem loslösen und dann von der Loslösung loslösen; nirgends hängen bleiben“ (p.935). Genau das hatte ich getan, jedenfalls mit bezug auf die Sprache. Was nicht zur Folge hatte, dass ich die Fähigkeit zu sprechen verloren hätte oder dass das Sprechen mir nicht mehr nützlich gewesen wäre. Ganz im Gegenteil entstand aus meiner Verwirrung ein drängendes Bedürfnis nach Kontakt und Kommunikation, nach Zuhören, um zu verstehen wie die Menschen um mich herum die Welt verstehen. Und seltsamerweise hatte meine Fähigkeit des Zuhörens sich verändert. Eine Art von Empathie war in mir gewachsen, eine Fähigkeit zu fühlen, was mit meinem Gegenüber los ist. Ich selbst sprach in dieser Zeit wenig, aber was ich sagte, pflegte von Herzen zu kommen.

Nagarjuna kommt auf anderen Wegen zu einer Distanzierung von den Bedeutungen der Begriffe. Er benutzt verschiedene Formen dialektischer Logik, wie z.B. das Tetralemma (die 4 Denkschritte, die auf p. 938 Mitte dargestellt sind). Im Unterschied zum westlichen Denken „wurde (hier aber) die Logik das Mittel der Einung mit dem eigentlichen Sein, nicht in ontologischer Seinserkenntnis, sondern in dem Verbrennungsprozess des Denkens durch das Denken selber“ (p.946). Und: „Keine dieser (abendländischen Denk-)weisen ist wesentlich in der Dialektik der Buddhisten. Hier wird die Dialektik zum Mittel des Aufhebens des Denkens in das Undenkbare, das, am Maße des Denkbaren, weder Sein noch Nichts, ebensosehr beides, aber auch nicht einmal in solchen Aussagen fassbar, ist“ (p.953).

Das Ergebnis ist, wie Jaspers richtig sieht, die Vernichtung der Metaphysik durch die Mittel der Metaphysik. „Nagarjuna verwirft das gesamte metaphysische Denken. Er spricht gegen die Schöpfung der Welt, sei es durch Gott, sei es durch den purusa, sei es durch die Zeit, sei es durch sich selbst. Er spricht gegen die Befangenheit in Vorstellungen von Bestimmungen, Eigensein, Atomen, spricht gegen die Ansichten des Vernichtetwerdens von allem und die des Ewigseins, spricht gegen die Ansicht vom Selbst.“ Ich habe nie versucht, Nagarjunas Argumente im einzelnen nachzuvollziehen. Für die westliche Philosophie aber stellt sich nach meiner Einschätzung schon die Frage, ob Nagarjunas Dialektik womöglich zwingend ist. Was wäre dann? Könnte die abendländische Philosophie das ertragen? Damit wäre nicht nur der Metaphysik der Boden entzogen, sondern auch allen Einzelwissenschaften. Und dann?

Damit komme ich zu dem Punkt, an dem Jaspers’ Verständnis von Nagarjuna nach meinem Gefühl etwas schief liegt. Es ist die Frage, wozu das alles gut sein soll, was denn eigentlich danach kommt, wenn die radikale Loslösung von allen Dharmas gelungen ist. „Alle dharmas erwirken in der Täuschung der Zeichen und, überschwemmt von Leidenschaften, die Not des Leidens. Ist diese in ihrer Leerheit begriffen, so ist sie überwunden. Nun ist der Zustand frei zugleich von Täuschung und von Qual. In der vollendeten Ruhe hört die Leerheit der dharmas zwar nicht auf da zu sein, aber dies Dasein berührt nicht mehr, hat seine Schrecken verloren, sein Gift, seine Macht. In diesem Zustand ist gegenwärtig das, worauf Zeichen wie Geburt und Tod und Zeit nicht mehr zutreffen, ein Unerschütterliches, für das alles Kommen und Gehen wesenslos wurde.“ Was hier ganz und gar nicht stimmt, ist: „aber dies Dasein berührt nicht mehr“. Das Ziel der Loslösung ist nicht, den Kontakt zu verlieren. Das Ziel der Loslösung ist vielmehr das Klebrige am Kontakt zu beenden, die Fixierung, das Klammern, so dass die Möglichkeit des Kontakts mit der Möglichkeit des Nicht-Kontakts koexistieren und der Kontakt spielerisch, tänzerisch, lebendig werden kann. Und: „In der vollendeten Ruhe ...“ Das klingt in meinen Ohren friedhofsmäßig. Es geht nicht darum, das Leiden zu beenden, indem man zugleich die Lebendigkeit beendet. Das wäre wie ein Fleckenmittel, das nicht nur den Fleck beseitigt, sondern auch den Stoff, auf dem der Fleck sitzt. Die vollendete Ruhe kann, wenn sie erreicht ist, zum Hintergrund werden, vor dem das Leben höchst freudvoll tobt.

Ein ähnliches Missverständnis zeigt sich in der Behandlung der zwei Wahrheiten (p.939). Die Benennung der relativen Wahrheit als „verhüllte Wahrheit“ und der absoluten Wahrheit als „Wahrheit des höchsten Sinns“ führt in die irre, weil dadurch die absolute Wahrheit als die eigentlich wahre bevorzugt und die relative Wahrheit als eigentlich falsch diskreditiert wird. Das zeigt sich in Formulierungen wie: „nur über das Falsche wird das Wahre erreicht “. Auch ich habe das lange Zeit so missverstanden, bis mir klar wurde, dass die absolute und die relative Wahrheit einfach zwei mögliche Haltungen sind, die man gegenüber dem Existenzmodus der Bestandteile einer konkreten Erfahrung einnehmen kann: eine naive (relative), welche die Identität der Bestandteile mit gesundem Menschenverstand akzeptiert, und eine kritische (absolute), die deren Leerheit und Abhängigkeit mit philosophisch und kontemplativ geschulter Schärfe durchschaut. Mit einiger Übung können beide Haltungen durchaus koexistieren und widersprechen sich in keiner Weise. Da im Alltagsbewusstsein der meisten Menschen die naive Haltung dominiert, braucht es Übung, um die kritische Haltung zu kultivieren, so dass man sie jederzeit zur Verfügung zu hat, als zusätzlichen Freiheitsgrad für vielfältige kreative Interpretationen des scheinbar Gegebenen.

Jaspers ahnt wohl, dass da etwas nicht ganz stimmt, und benennt die dahingehende Verkehrung der Lehre ganz explizit: „Nun aber kann die Verkehrung der Leerheit stattfinden. Das geschieht, wenn sie nur negativ das Verwehen allen Daseins in der Ruhe des Nichts ist. Dann lässt sie das eigene Dasein einschrumpfen in der Zeit, weil alle Erfüllung verworfen wird zugunsten jener abstrakten Erfüllung des Nichtsein-Seins, der Leerheit, der Ruhe an sich... es geschieht ein absinkendes Entschwinden in das Inkommunikable“ (p.984f). Und doch ist er von dieser Verkehrung nicht ganz frei, z.B. wenn er in der Schlussbemerkung (p.956) über den Aspekt der Distanzierung schreibt: „Von Asien her gesehen werden diese (abendländischen) Distanzierungen immer unvollkommen sein, denn in allen bleibt ein Haften an der Welt. Vom Abendland her gesehen wird dagegen die asiatische Distanzierung aussehen wie das Verschwinden in das Unzugängliche, in das Inkommunikable, hinaus aus der Welt.“ Ja, westliche Distanzierungen sind weniger radikal, und nein, die asiatische Distanzierung führt nicht notwendig hinaus aus der Welt. Der Rückzug aus der Welt ist notwendig, als Teil des Weges, als Übung. Das Ziel der Übung ist aber gerade nicht der Rückzug, sondern der totale Kontakt, der erst dann möglich wird, wenn die letzte Mauer fällt, die uns von der Welt trennt: das Haften an der Identität des Ich.

Das mag beim Studium von Texten aus dem Hinayana (der frühen Form des Buddhismus) anders aussehen. Hier gab es die Figur des „Arhat“, des Weisen, der zu Lebzeiten in der Streitlosigkeit weilt und nach dem Tode dem Leidenskreislauf endgültig dadurch entkommt, dass er nicht mehr wiedergeboren wird und statt dessen „ins Nirvana eingeht“. Ich halte das für ein westliches Missverständnis, dem möglicherweise ein buddhistisches Selbstmissverständnis zugrunde liegt. Das Beispiel Buddhas spricht eine andere Sprache, der mehr als 40 Jahre lang durch Indien wanderte und dabei höchst aktiv lehrte, Klöster gründete und leitete, und politische Kontakte pflegte. Im Mahayana (dem Nagarjuna ja angehörte), wurde mit solchen Vorstellungen jedenfalls gründlich aufgeräumt, nicht zuletzt durch die Figur des Bodhisattva, der diese Möglichkeit des endgültigen Verlöschens zwar hätte, aber sie nicht wählt, sondern sich aus freien Stücken immer wieder inkarniert, um anderen Wesen bei ihrer Suche nach dem Ausweg aus dem Leiden helfen zu können.

Der buddhistische Befreiungsweg ist ein Weg für Individuen. Die buddhistische Philosophie ist vor allem als eine Übung gemeint, die für intellektuell orientierte Individuen nützlich sein kann. Aber wenn sie in irgend einem Sinne wahr ist, dann kann die abendländische Philosophie als gesellschaftliche Institution sie nicht auf Dauer ignorieren. Was bei einem solchen interkulturellen Diskurs herauskommen kann, weiß ich nicht. Ich kann nur träumen von zukünftigen Wissenschaften, die sich vom Haften an ihrer alten Identität befreit haben, aus den Träumen ihrer verhärteten Begriffswelten erwacht sind, und beginnen, abendländische Auswege aus dem Leidenskreislauf zu erforschen.

 

Mit herzlichen Grüßen und den besten Wünschen