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Buddhismus und Naturwissenschaft

Eröffnungsbeitrag zum Diskussionforum

von Dr. Dr. Rudolf F. Matzka, Juli 2003

1. Eine kognitive Dissonanz

Dass man Religion und Naturwissenschaft am besten nicht miteinander in Verbindung bringt, gehört zum unausgesprochenen Glaubensbekenntnis der meisten westlichen Intellektuellen. Der offenkundige Widerspruch zwischen christlichem Dogma und naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird in der Regel mit einem augenzwinkernden Nichternstnehmen der christlichen Religion in Kauf genommen. Das geistige Ringen um die Auflösung des Widerspruchs ist eher selten anzutreffen.

Die Entwertung der christlichen Religion reißt jedoch eine Lücke auf, es bleibt ein untergründiges Fragen, das keine Antworten mehr findet. Viele suchen die christliche Religion wiederzubeleben, etwa durch Anknüpfen an die christliche Mystik, andere suchen Orientierung in Bewegungen wie New Age oder Esoterik, wieder andere schauen sich bei den anderen Weltreligionen um. Unter diesen hat der Buddhismus gerade für Intellektuelle einen besonderen Reiz.

Dieser Reiz besteht zunächst darin, dass der Buddhismus uns keinerlei Glaubensbekenntnis zumutet. Buddha Shakyamuni teilt uns einfach nur mit, was er im Selbstexperiment herausgefunden hat: dass der Glaube an die Existenz des „Ich“ ein Irrtum ist, dass dieser Irrtum mit einer Verblendung unseres Geistes einhergeht, die uns hindert, die Wirklichkeit angemessen zu erfahren, und auf diese Weise Leiden erzeugt. Und dann sagt er noch, wie die Verblendung genau funktioniert, und welche Gegenmittel man anwenden kann, um sie aus dem Weg zu räumen. Die Verblendung funktioniert so, dass der Geist reflexartig nach allem greift, was in seine Reichweite kommt; die Ausübung dieses Greifreflexes erzeugt den Glauben an die Dauerhaftigkeit des Ich und der Dinge um uns. Die empfohlenen Gegenmittel nutzen primär die Stille, und ihr erstes Ziel ist das Unterbrechen des Greifreflexes. Man muss das alles nicht glauben, man kann einfach interessehalber eines der Gegenmittel anwenden (sie haben keine unerwünschten Nebenwirkungen), und sehr bald sollten sich erste Einsichten einstellen, welche Shakyamunis Beobachtungen bestätigen. Oder auch nicht; in diesem Fall lässt man es halt wieder bleiben.

Ganz unversehens wird man darüber zum praktizierenden Buddhisten, die Praxis beginnt zu wirken, über kurz oder lang wird das Leben lebendiger und einfacher, und Shakyamunis Botschaften werden fraglos einsichtig. Dann aber tauchen andere Fragen auf. Hatte ich nicht früher etwas anderes für wahr gehalten? War ich nicht davon überzeugt, dass ich wirklich und objektiv existiere? Und dass die Dinge um mich herum wirklich und objektiv existieren? Und ist das nicht das, was alle anderen glauben, und was uns die Naturwissenschaft sagt? Oder eher, was die Naturwissenschaft voraussetzt, bevor sie zu fragen anfängt? Sollte folglich alles, was als gesichertes Wissen das Abendlands gilt, auf einmal nicht mehr wahr sein? Geometrie, Mechanik, Quantenphysik, Chemie, Kosmologie, Informatik – alles falsch?

Vor dem unauflöslichen Widerspruch zwischen Religion und Naturwissenschaft geflohen, eine andere Religion gefunden, und nun ein ganz anderer Widerspruch zwischen dieser und der Naturwissenschaft. Wie um alles in der Welt geht man nun damit um? Mit augenzwinkerndem Nichternstnehmen der Naturwissenschaft? Während man gleichzeitig am Computer sitzt und eine Internetseite pflegt? Eine kognitive Dissonanz macht sich in meinem Geist breit, und mein Verdacht ist, dass es lohnend sein könnte, diese intellektuell anzugehen. Es ist ja nicht nur mein persönliches Problem. Eine große intellektuelle Bruchstelle des menschlichen Geistes ist durch die Globalisierung des 20. Jahrhunderts sichtbar geworden, und man kann vermuten, dass unter dieser Bruchstelle ein mächtiges kreatives Potenzial auf uns wartet.

2. Philosophische Verbindungen

Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist der Buddhismus in den Westen gekommen, aus Japan, Tibet, Vietnam, Ceylon und anderen Ländern Ost- und Südostasiens. Ein interkultureller Dialog hat begonnen, der sich auf immer mehr Themen ausweitet und an Tiefe der Durchdringung zunimmt. Es lohnt sich also, den Stand der öffentlichen Diskussion zu recherchieren, bevor man selbst nachzudenken beginnt.

Die oben dargestellte Dissonanz betrifft die Voraussetzungen der Naturwissenschaft, also die Metaphysik. Somit ist die Philosophie der Ort, an dem die Diskussion beginnen muss. Es gibt eine sehr hochentwickelte und weit verzweigte buddhistische Philosophie, an die sich hierbei anknüpfen läßt. Für die westliche Mainstream-Philosophie ist Buddhismus noch kein Thema, aber es gibt Strömungen der zeitgenössischen Philosophie, die enge Berührungspunkte zum Buddhismus haben, und es gibt philosophische Gruppierungen, die an der Auseinandersetzung mit dem Buddhismus sehr interessiert sind.

Die Philosophie des 20. Jahrhunderts, sofern sie überhaupt kreativ war und sich nicht auf Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie zurückzog, war von dem „Linguistic Turn“ geprägt, der Rückbesinnung auf die Rolle der Sprache bei der Theoriebildung. Darin kann man schon eine Annäherung an buddhistische Positionen sehen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Spätphilosophie von Ludwig Wittgenstein [1]. Er bearbeitet philosophische Probleme nicht indem er sie löst, sondern indem er sie durch die Analyse ihrer sprachlichen Voraussetzungen zum Verschwinden bringt. Diese Haltung steht der Prasanghika-Madhyamika-Philosophie nahe, von der gesagt wird, dass sie keine eigenen Behauptungen aufstellt, sondern nur die Ansichten anderer philosophischer Richtungen ad absurdum führt. Eine Darstellung des Zusammenhangs zwischen Wittgenstein und Prasanghika findet sich in einer Studie von R. Thurman über Jey Tsongkhapa [2].

Ein bedeutender Philosoph hat diesem Jahrhunderttrend entgegen gearbeitet und eine eigenständige spekulative Philosophie entwickelt: Alfred North Whitehead [3]. Whiteheads Philosophie weist starke inhaltliche Bezüge zu buddhistischem Gedankengut auf, weit mehr als die Wittgensteins. Whitehead war ein Kenner der modernen Naturwissenschaft, und seine Philosophie ist aus der kritischen Auseinandersetzung mit dieser entstanden. Das macht ihn für den Dialog zwischen Buddhismus und Naturwissenschaft hochinteressant. Ein Teil dieses Dialogs muß ja eine buddhistische Kritik der Naturwissenschaft sein, und so weit Whiteheads Position mit der buddhistischen Position übereinstimmt, hat Whitehead diese Kritik bereits geleistet.

Der naturwissenschaftliche Erkenntnismodus selektiert nach Whitehead als Quelle der Theoriebildung einen kleinen, genau angebbaren Ausschnitt menschlicher Erfahrung, erklärt die so bestimmte Erfahrung für relevant, und ignoriert alle andere Erfahrung. So entsteht das Bild eines Universums, das aus Raumzeit, Teilchen und Feldern besteht, und das nichts anderes tut, als ewigen Naturgesetzen zu folgen. Leben, Erfahrung, Gefühl, Bewusstsein, Gegenwart, Dauer sind in diesem Bild nicht verstehbar. Läßt man hingegen die ganze Vielfalt menschlicher Erfahrung als Quelle der Theoriebildung zu, so entsteht das Bild eines lebendigen, wahrnehmenden, vielleicht sogar bewussten, jedenfalls kreativen Universums. Die so skizzierte Naturphilosophie wird von Whitehead durch eine Metaphysik untermauert, die sich von der platonisch-aristotelischen Substanzmetaphysik löst und die Vorstellungen von Prozessualität und Relationalität an den Anfang der Begriffsbildung stellt.

Damit gibt es sehr direkte Bezüge zur buddhistischen Lehre vom abhängigen Entstehen, von der Vergänglichkeit, vom Nicht-Ich. Aber es gibt auch Aspekte von Whiteheads Philosophie, die nicht so gut zum buddhistische Denken passen, wie die Vorstellung von „Eternal Objects“, oder sein Gottesbegriff. Umgekehrt gibt es in Whiteheads Philosophie nichts, was dem buddhistischen Befreiungsweg entspräche. Eine detaillierte Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Whitehead und buddhistischer Philosophie wurde bereits 1975 von Inada [4] durchgeführt.

3. Weiterführende Fragen

So viel ist also immerhin geklärt, dass die von Plato und Aristoteles überkommene Substanzmetaphysik im 21. Jahrhundert als überholt gelten muss.

Nun ist die Substanzmetaphysik ganz eindeutig die Grundlage der Physik des 20. Jahrhunderts. Zwar wurde der Substanzbegriff durch die physikalischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts massiv aufgeweicht: durch die Entdeckung der Äquivalenz von Masse und Energie in der Relativitätstheorie, durch den Übergang vom Begriff des materiellen Körpers zum Begriff des Feldes in der Quantenphysik [5]. Aber die Sprache der Physik bleibt doch eine Sprache von Dingen, zumindest auf der alleruntersten Ebene des Theorieaufbaus. Man darf nicht vergessen, dass der theoretische Kern der Physik ein mathematischer ist, dass die Sprache der Mathematik der Prädikatenkalkül ist, und dass die Grammatik des Prädikatenkalküls über nichts anderes zu reden erlaubt als über Dinge sowie deren Eigenschaften und Relationen. In „Modes of Thought“ beschreibt Whitehead die Grundzüge des klassisch-physikalischen Weltbildes, das um ca. 1500 Gestalt annahm, und schreibt dann über den Geisteszustand der Moderne:

„The state of modern thought is that every single item in this general doctrine is denied, but that the general conclusions from the doctrine as a whole are tenaciously retained. The result is a complete muddle in scientific thought, in philosophic cosmology, and in epistemology. But any doctrine which does not implicitly presuppose this point of view is assailed as unintelligible“ [6].

Angesichts dieses Sachverhalts kann man sich wundern, dass die Physik trotzdem so unglaublich gut funktioniert. Ich denke, sie funktioniert deshalb, weil sie auf Erfahrung beruht. Die Metaphysik bestimmt, welche Fragen man stellt und in Experimente umsetzt, wie man die Ergebnisse der Experimente interpretiert, wie man davon ausgehend die Theorie weiterentwickelt. Aber wenn ein Experiment erfolgreich durchgeführt ist, dann ist damit eine Erfahrung gewonnen. Man hat gelernt, dass bestimmte Handlungen des Physikers, die er mit seinen Apparaturen vornimmt, zu bestimmten Ergebnissen führen. Unabhängig von der Metaphysik ist das Wissen um den Zusammenhang zwischen Handlung und Ergebnis gültig, in dem Sinne, dass das ganze wiederholbar ist, wiederholbar auch unter vielfach abgewandelten Umständen. Die Angabe der Bedingungen der Wiederholbarkeit ist nun aber wieder eine Abstraktionsaufgabe der Theorie, und ist somit durch die Metaphysik bestimmt. Innerhalb der Theorie tauchen dann Dinge auf wie: Geometrien, Felder, Energiequanten, Teilchen; und deren Dynamik wird beschrieben durch Dinge wie: Operatoren, Eigenwerte, Differentialgleichungen etc. Ist man in dieser Sprache zu hause, so kann man denken, man habe durch das Experiment etwas darüber gelernt, wie die Welt an sich beschaffen ist, ganz objektiv und unabhängig von uns.

Was passiert nun mit der Physik, wenn man ihr die Substanzmetaphysik wegnimmt, und sie mit der Prozessmetaphysik in Beziehung setzt? Der Dialog zwischen Whitehead und der Physik war leider sehr einseitig. Whiteheads Philosophie wurde von der Physik nicht zur Kenntnis genommen. Erst seit vier oder fünf Jahren versuchen ein paar progressive Physiker, Whitehead’sches Gedankengut in eine Neubegründung der Physik einfließen zu lassen [7]. Nach meinem Gefühl greift dieser Ansatz aber zu kurz, weil er nicht wirklich auf der metaphysischen Ebene ansetzt.

Die spannende Frage heißt doch: Was bedeuten die in den physikalischen Theorien geronnenen Erfahrungen, wenn man sie im Licht der neuen Metaphysik betrachtet? Können wir, wenn wir so fragen, vielleicht mehr aus den Gleichungen der Physik lernen, als ursprünglich mit ihnen gemeint war? Als Physiker stehen wir der Natur gegenüber, als Whiteheadianer sind wir die Natur. Als Physiker betrachten wir die Natur von außen, als Whiteheadianer betrachten wir sie von innen. Man kann also auf die Idee kommen zu fragen, was eine bestimmte physikalische Aussage bedeutet, wenn man sie nicht aus der Sicht des Physikers, sondern aus der Sicht der Natur interpretiert.

Diesen Gedanken, und auch die Frage, habe ich bei Whitehead und in der an ihn anknüpfenden Literatur bis jetzt nicht gefunden. (Aber ich beschäftige mich erst seit wenigen Wochen mit Whitehead.) Ich weiß auf diese Frage keine Antwort, und möchte sie gerne zur Leitfrage dieses Diskussionforums machen. Als weitere Anregung noch ein Zitat meines Lehrers Sogyal Rinpoche [8], dem ich im übrigen sehr viel mehr als dieses Zitat zu verdanken habe.

„Könnte es nicht hilfreich sein, nach Parallelen zwischen diesen drei Aspekten von David Bohms Idee des Universums [Materie, Energie, Sinn] und den drei Kayas zu suchen? Eine tiefere Analyse der Ideen David Bohms könnte vielleicht zeigen, dass Sinn, Energie und Materie in ähnlicher Beziehung zueinander stehen wie die drei Kayas. Könnte dies vielleicht zu der Erkenntnis führen, dass die Rolle von Sinn, wie Bohm ihn beschreibt, eine Analogie zum Dharmakaya sein könnte, zu dieser grenzenlos schöpferischen, ungeformten Totalität, aus der alle Dinge entstehen? Das wirken der Energie, durch das Sinn und Materie einander beeinflussen, hätte dann eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Sambhogakaya, dem unmittelbaren, dauernden Entspringen von Energie aus dem Grund der Leere, und die Erschaffung von Materie in David Bohms Modell hätte Ähnlichkeit mit dem Nirmanakaya, der fortlaufenden Verdichtung dieser Energie zu Form und Manifestation.“

Eine zweite Frage, die mich sehr interessiert, ist die Frage nach der Rolle des Formalen in der Naturwissenschaft. In der Physik ist das Formale in Gestalt der Mathematik enthalten, und es ist nicht zuletzt dieses formale Skelett, welches der Physik ihre unvergleichliche Wirkungskraft verleiht. Aber diese Mathematik ist eine hochspezielle Ausprägung des Formalen, und zwar eine solche, welche die Substanzmetaphysik geradezu verkörpert. Also fragt sich doch: Ist es möglich, sich von der Substanzmetaphysik zu emanzipieren, ohne das Element des Formalen achselzuckend in den Müll zu werfen? Also muss man fragen: wie, genau, ist die Substanzmetaphysik in der Mathematik verköpert? Ich vermute, dass man hier sehr tief graben muss, bis zur Ebene der Semiotik [9].

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[1] Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe in 8 Bänden, Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft
[2] Robert A. F. Thurman: A Study and Translation of Jey Thong Khapa’s Essence of True Eloquence, Princeton University Press 1984, ISBN 691-02067-1
[3] Zur Einführung in Whiteheads Philosophie zu empfehlen: Michael Hampe, Alfred North Whitehead. Beck 1998, Reihe Denker, ISBN 3-406-41947-X
[4] Kenneth K. Inada: The metaphysics of Buddhist experience and the Whiteheadian encounter. In: Philosophy East and West Vol. 25/1975.10, p. 465-487
[5] Tian Yu Cao: Concetual Developments of 20th Century Field Theories. Cambridge University Press 1997
[6] Alfred North Whitehead: Modes of Thought, The Free Press New York 1938, S. 132
[7] http://ph131.ph.flinders.edu.au/html/people/processphysics.html
[8] Sogyal Rinpoche: Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Barth 1993, S. 417
[9] Rudolf Matzka: Semiotic Abstractions in the Theories of Gotthard Günther and George Spencer Brown. In: Acta Analytica, Band 10 (Mind & Logic), 1993, S. 121