Buddhismus und Naturwissenschaft

Erste Gedanken zur Logik, Verblendung und Physik

 

R. Matzka, 30. September 2003

1. Die Logik der Verblendung

Ganz im Zentrum des buddhistischen Lehrgebäudes steht die Lehre von der Verblendung. Verblendung besteht in einer bestimmten fehlgeleiteten Konditionierung unseres Geistes, einer Konditionierung, die den Geist beständig am Greifen hält. Die Zwanghaftigkeit dieses Greifens führt zur Verfestigung gewisser Bilder und Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen. Die erste und härteste dieser Verfestigungen ist der Glaube an die Identität des Ich. Dieser Glaube geht einher mit der Vorstellung der Getrenntheit von Ich und Welt, und mit der Vorstellung, daß die Welt objektiv gegeben und real ist. Ich will diesen Aspekt der Verblendung mit einem Namen benennen, den ich bei Gotthard Günther gefunden habe: Subjekt-Objekt-Dichotomie.

Die Subjekt-Objekt-Dichotomie spielt in der Entwicklung des abendländischen Geistes eine herausragende Rolle. Sie ist die anerkannte Grundlage des rationalen Denkens. Sie wurde kodiert in der aristotelischen Metaphysik und Logik, sie findet sich wieder in Renè Descartes Unterscheidung von Res Cogitans und Res Extensa, sie ist das formbildende Prinzip der modernen Wissenschaft. Es soll hier die These vertreten werden, dass die begrifflichen Schwierigkeiten der Quantenphysik als ein Hinweis auf den Verblendungscharakter der Subjekt-Objekt-Dichotomie verstanden werden können.

Mit der Kodifizierung der Subjekt-Objekt-Dichotomie in der Metaphysik und Logik durch Aristoteles hat diese Dichotomie eine gesellschaftliche Qualität angenommen. Diese Kodifizierung weist eine Asymmetrie auf, der Art dass der Fokus der Aufmerksamkeit ganz eindeutig auf die Objekt-Seite der Dichotomie gerichtet ist. Die Logik ist das gesellschaftliche Regelsystem, dem der Prozess des „Ich denke Etwas“ zu folgen hat. Im Kontext der Wissenschaft sind das Etwas und die Logik für alle Iche gleich; dadurch wird die Differenz von Ich und Du logisch irrelevant, und so wird aus dem „Ich“ in der Formel „Ich denke Etwas“ eine Variable, für die nach Belieben individuelle Iche eingesetzt werden können. Das individuelle Ich geht im kollektiven Ich der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf (oder unter?) und verschwindet damit endgültig aus dem Blickfeld.

Es lässt sich kaum bestreiten, dass sich in unserer Alltagserfahrung Differenzen zeigen, die zur Bildung der Unterscheidung von so etwas wie „Ich“ Anlass geben können. Aber es ist einfach nur eine Unterscheidung, etwas, das wir im Rahmen unserer geistigen Aktivität erzeugt haben, etwas, das wir zur Realität hinzugefügt haben (vgl. dazu Radcliff + Radcliff: Zen-Denken). Das abendländische Denken macht diese Unterscheidung zum Absolutum, zum unausgesprochenen Axiom aller Rationalität. Weiter verschiebt dieses Denken seine Aufmerksamkeit so nach außen, dass das Äußere das geistige Blickfeld vollständig ausfüllt und das Ich in der Abstraktheit des wissenschaftlichen Wir verschwindet. Wenn ein so konditionierter Geist eine Naturwissenschaft entwickelt, so kann er sich einbilden, der Gegenstand dieser Wissenschaft sei die Natur in ihrer Gesamtheit. Aber das ist unmöglich der Fall. Diese Naturwissenschaft hat, quasi als Geburtsfehler, einen blinden Fleck, und das ist die Subjekt-Seite der Subjekt-Objekt-Dichotomie. Subjektivität wird zum Tabu, kann nicht als Subjektivität thematisiert werden sondern nur auf dem Umweg über die Wirkungen, die sie im Objektiven entfaltet.

Die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik führt zu grotesken Aussagen, wenn man annimmt, die Quantenphysik sei die absolut grundlegende Theorie der Realität („Messproblem“ und „Schrödingers Katze“, vgl. Rae, Quantenphysik). Nach dem oben Gesagten muss man sich darüber nicht wundern.

2. Die bedrohte Objektivität

Ich verstehe die beiden großen physikalischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts als Rückzugsgefechte der wissenschaftlichen Subjektivität. Zweimal drohte die verdrängte Subjektivität in die Objektivität der physikalischen Theorie einzubrechen, drohte das eherne Gesetz der Subjekt-Objekt-Dicho­to­mie zu verletzen. Und zweimal mussten die Physiker ihre gesamte Begrifflichkeit radikal umstrukturieren, um die Integrität der Subjekt-Objekt-Dichotomie noch einmal zu retten.

Zuerst die Relativitätstheorie. Das Michelson-Morley-Experiment machte offensichtlich, dass die bisherige Methode, bei der Raum- und Zeitmessung vom messenden Physiker zu abstrahieren (nämlich mittels der Galilei-Transformation), sich nicht halten ließ. Das war eine Katastrophe für die Theorie. Man war gezwungen, die Galilei-Transformation durch die Lorentz-Transformation zu ersetzen, und das hatte massive begriffliche Konsequenzen. Raum und Zeit verloren ihre Rolle als Grundbegriffe, statt dessen wurden Ereignis und Signal als Grundbegriffe und die Lichtgeschwindigkeit als Konstante eingeführt, um so das Raum-Zeit-Kontinuum rekonstruieren zu können. Viel von der früheren Anschaulichkeit der Physik ging dabei über Bord. Die Preisgabe des absoluten Raumes und der Absoluten Zeit war das Bauernopfer, welches erlaubte, die strikte Objektivität der Theorie noch einmal zu retten.

Und dann die Untersuchungen Einsteins über den fotoelektrischen Effekt. Auf einmal war nicht mehr klar, ob Licht eine Welle oder ein Teilchenstrom ist. Nein, schlimmer, es war entweder ganz eindeutig eine Welle, oder ganz eindeutig ein Teilchenstrom, je nachdem, welche Art von Experiment der Physiker ausführte! Der Physiker, der gemäß dem Gesetz der Subjekt-Objekt-Dichotomie doch prinzipiell außen vor bleiben muss, als streng passiver Beobachter, war plötzlich in der hochnotpeinlichen Situation, dass seine Entscheidung darüber, welches Experiment er durchführt, festlegt, welcher Art die Natur des Lichts ist! Das sah aus wie das Ende der Physik. Man musste massive Umbauten im physikalischen Gebäude vornehmen, um wieder eine einigermaßen konsistente Theorie zu bekommen und die Subjekt-Objekt-Dichotomie notdürftig zu restaurieren. Man mußte von der Beschreibung im dreidimensionalen Raum zu einer Beschreibung in unendlichdimensionalen Hilberträumen übergehen, und mußte mathematische Ungetüme wie Operatoren und Eigenwerte mit der Aufgabe betrauen, physikalische Realitäten abzubilden. Ganz beiläufig führte dieser Umbau zu einem dramarischen Anwachsen der praktischen Nützlichkeit der Physik. Die Anschaulichkeit war hingegen endgültig verloren. Diesmal war es mehr als ein Bauer, der im Interesse der Objektivität geopfert werden musste: Verlust des Determinismus, Unschärferelation, Messproblem, ...

Und dennoch war dieses zweite Rückzugsgefecht weit weniger erfolgreich als das erste. Die Subjekt-Objekt-Dichotomie blieb aufs Hässlichste ramponiert. Das Unbefriedigende an der Quantenphysik ist aus moderner Sicht weniger der Doppelcharakter des Lichtes als die Tatsache, dass die physikalische Realität durch zwei völlig verschiedene Arten von Prozessen beschrieben werden muss:

  1. Die Entwicklung der Wellenfunktion. Dieser Prozess ist kontinuierlich und deterministisch. Er wird durch eine Differenzialgleichung beschrieben: die Schrödingergleichung.
  2. Der Messprozess. Dieser Prozess ist diskontinuierlich und stochastisch. Er führt zum Kollaps der Wellenfunktion, und dazu, dass gewisse physikalische Observablen numerische Werte erhalten.

Der Zusammenhang zwischen Prozess 1 und 2 ist jedoch völlig unklar, ebenso wie die innere Dynamik von Prozess 2. An Prozess 2 ist das physikalische Subjekt ganz wesentlich aktiv beteiligt, und es gibt bisher keinen ernstzunehmenden Ansatz, der das Subjekt aus dieser misslichen Lage befreien würde.

Physiker tendieren dazu, sich über diese Absonderlichkeit der Quantenphysik zu wundern, vielleicht auch zu ärgern, sich aber sonst nicht weiter davon stören zu lassen. In der physikalischen Praxis spielen die begrifflichen Probleme keine Rolle, man kann sie getrost vernachlässigen.

Nach dem, was unter 1. gesagt wurde, sind wir in der erfreulichen Lage, dass wir uns wenigstens nicht mehr wundern (oder gar ärgern) müssen. Die Aufspaltung der Welt in Subjekt und Objekt, welche der Physik vorausgeht und zugrunde liegt, ist nichts Wirkliches, sondern eine Erfindung des Geistes. Wenn man nur die eine Hälfte der Welt betrachtet und diese Hälfte als die ganze Welt missversteht, und wenn dann die andere Hälfte der Welt sich ungefragt zu Wort meldet, so ist die entstehende Verwunderung nichts anderes als eine natürliche Folge des ursprünglichen Missverständnisses.

Aber damit ist es nicht getan. Die Fragen fangen jetzt erst an.