Mails von Rudi an David, Februar – April 2011
Lieber David,
unser gestriges Gespräch fand ich sehr anregend und würde es gerne durch eine
Serie von Mails ergänzen.
Warum interessieren wir (Du und ich) uns für die Fragen im Umfeld von
Calculemus und Weizsäcker-AK? Mir scheint, uns ist eine gewisse Sorge um den
Zustand unserer Kultur gemeinsam, sowie der Wunsch, die Gründe für diesen
besorgniserregenden Zustand zu verstehen und Orientierungswissen zu generieren,
das Auswege aus diesem Schlamassel weist. Dafür setzen wir das ein, was uns
gegeben ist, nämlich die Privilegien einer relativ sorglosen Existenz und einer
soliden wissenschaftlichen Ausbildung und Erfahrung.
Da mir kein einschlägiges sozial- kultur- und geisteswissenschaftliches
Wissen zur Verfügung steht, um solche Fragen kompetent anzugehen (ich bin dabei
dazuzulernen, werde aber wohl immer ein Amateur bleiben), pflege ich in dieser
Hinsicht ein analogisches Denken. Ich denke unsere Kultur in Analogie zum Individuum,
und das Individuum, das ich am besten kenne, bin ich selbst. Meine erste Frage
an Dich wäre dann: Ist das wissenschaftlich zulässig? Kann man die Kultur als ein
Subjekt denken? Vom Hörensagen weiß ich, dass Hegel vom absoluten Geist gesprochen
hat, Du hast auch schon mal den Begriff Weltgeist verwendet. Geht das in
diese Richtung? Gibt es sonst Ansätze, soziale Kollektive als Subjekte zu
denken? Denkt Luhmann so? Mir scheint das z.B. für wissenschaftliche
Gemeinschaften sehr nahe zu liegen, vielleicht auch für andere
gesellschaftliche Institutionen oder für Nationen.
Wir waren uns glaube ich so weit einig, dass die Armut unserer Kultur zu einem
guten Teil eine emotionale Armut ist, insbesondere dort, wo sie sich reich
wähnt, und dass die emotionale Seite der Existenz etwas ist, das von den
Wissenschaften nur sehr selten in den Blick genommen wird. Das ist einer der
Gründe, warum der Buddhismus mich so fasziniert. Er stellt die intellektuelle
und emotionale Seite unserer Existenz in eine direkte Beziehung. Das zeigt sich
am deutlichsten in der An-Atta-Lehre. Ich will kurz darauf eingehen, wie ich
diese Lehre verstehe.
Die intellektuelle Seite der An-Atta-Lehre ist die Lehre, dass unsere
Vorstellung von einem Ich, das irgendwo in unserem Körper residiert, das alle
sinnlichen Wahrnehmungen koordiniert und alle muskulären Akrivitäten
kontrolliert, kein Gegenstück in der Wirklichkeit hat, dass es also eine
Illusion oder eine mentale Konstruktion ist. Die emotionale Seite der
An-Atta-Lehre geht dahin, dass wir die Tendenz haben, diese Illusion zu hegen
und pflegen, sie zu tabuisieren, und sie mit allen Mitteln davor zu schützen, als
Illusion entlarvt zu werden. Dies tun wir, indem wir unsere Erfahrungen in
angenehme und unangenehme einteilen und indem wir unangenehme Erfahrungen zu
vermeiden und angenehme Erfahrungen zu erleben und festzuhalten suchen.
Insebsondere die unangenehmen Gefühle, die immer wieder aus unserem Innern
kommen, schieben wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln beiseite.
Dummerweise funktioniert das nicht sehr nachhaltig, die beiseite geschobenen
negativen Erfahrungen kehren verstärkt zurück und überfallen uns von hinten,
und so kann der Prozess sich aufschaukeln. Das ist, so Buddhas Diagnose, die
Ursache des Leidens.
Lässt sich diese Diagnose auf die Kultur als Ganzes (wie auch immer wir das
abgrenzen), als Subjekt, übertragen? Oder auf andere Arten von
überindividuellen Subjekten? An dieser Stelle wird es wichtig, zu klären, was
die An-Atta-Lehre strukturell bedeutet. Wenn man sagt, das Ich sei eine
mentale Konstruktion, dann klingt das wie eine paradoxale Denkfigur. Die
Paradoxie rührt daher, dass wir mentale Aktivität als etwas denken, das sich
nur im Innern eines Ich abspielen könne. Diese Annahme ist nach meinem
laienhaften Verständnis im Begriff Bewusstsein enthalten, weshalb ich
diesen Begriff nur ungern verwende. Die Paradoxie löst sich auf, wenn wir
geistige Aktivität als etwas denken, das im Allgemeinen nicht in dieser Weise
lokalisiert ist. Die Frage nach dem Worin der geistigen Aktivität wurde
von Buddha nicht thematisiert, er hat sich überhaupt nicht für philosophische
Fragen interessiert. Gelegentlich übernimmt in buddhistischen Texten der
Begriff der Leerheit die Rolle dieses Worin, und um ca. 500 n.C. hat
sich die Schule des Yogacara oder Cittamatra mit dieser Frage beschäftigt und
die Theorie von Alaya entwickelt, einem sehr subtilen und
überindividuellen Aspekt des Geistes, der dann auch als Träger karmischer
Spuren fungiert. Es gibt andere Schulen der buddhistischen Philosophie, die das
für Unsinn halten.
Mich interessiert vor allem der strukturelle Aspekt der Ichkonsruktion, und da
scheint mir der Identitätsbegriff hilfreich zu sein. Das Ich wird gedacht und
erlebt als Eines, als ein Unterschiedenes oder Getrenntes, und als ein
Dauerhaftes, und jedes dieser Merkmale des Ich wird in den Lehren des Buddha
ausdrücklich negiert. Das Ich ist nicht Eines, es ist vielmehr ein buntes
Wechselspiel von diversen Prozessen, das z.B. in der Lehre von den 5 Skandhas
auseinandergenommen wird. Das Ich ist nicht getrennt von den Phänomenen, die in
seine Wahrnehmung eintreten, es ist auch nicht getrennt vom Du, und diese
letztere Ungetrenntheit wird in der Mahayana-Phase zur Grundlage von
universellem Mitgefühl. Das Ich ist auch nichts Dauerhaftes, nicht nur in dem
Sinn dass wir irgendwann sterben, sondern auch in dem Sinn, dass zwischen dem
Ich in diesem Moment und dem Ich im nächsten Moment keinerlei Kontinuität
besteht. Ich habe mal einen Vortrag des englischen Dzogchen-Meisters Rigdzin
Shikpo gehört, und da hat er berichtet, dass diese Nicht-Kontinuität des Ich
von Moment zu Moment, wenn man sie zum ersten mal als Erfahrung realisiert,
unvorstellbar heftige Gefühle von Trauer und Angst auslöst. Unsere Angst vor
der Wahrheit, hat er gesagt, sei größer als unsere Angst vor dem Tod. Deshalb
sei die Befreiung von der Illusion des Ich so schwer zu erreichen.
Hat unsere Kultur, als Ganzes, so etwas wie ein Ich? Gibt es ein Anderes, von
dem unsere Kultur sich als getrennt wahrnimmt? Mir kommt an dieser Stelle immer
die Natur in den Sinn, als das Andere der Kultur. Nimmt unsere Kultur sich, in
dieser Getrenntheit von der Natur, als Eines wahr? Gewiss noch nicht sehr
lange, aber im Zeitalter der Globalisierung kann man nach meinem Gefühl davon
durchaus sprechen. Und was ist das Verbindende dieser Einheit? Es ist in erster
Linie die Technik, und Technik ist doch nichts anderes als die Behrrschung der
Natur. Technik hat ihre Grundlage in der Naturwissenschaft, und
Naturwissenschaft lebt aus der strikten Dichotomie zwischen ihr selbst und der
Natur als ihrem Gegenstand, den sie erforscht und durch die Erforschung
beherrschbar macht. In dem Maße, in dem unsere Kultur sich über
Naturwissenschaft und Technik definiert, definiert sie sich als das Andere der
Natur. Nimmt unsere Kultur, in ihrer Getrenntheit von der Natur, sich als
Dauerhaft wahr? Ganz ohne Zweifel, und zwar in einem Maße, das jeden Sinn für
Realität vermissen lässt. Man denke nur an die Hybris im Hinblick auf die
Machbarkeit einer sicheren Endlagerung von Atommüll.
Wenn man diese Analogie zwischen Ich-Welt und Kultur-Natur für fruchtbar hält,
könnt man versuchen, die äußerst vielfältigen buddhistischen Therapieansätze
darauf zu prüfen, ob welche darunter sind, die sich vom Individuum auf die
Kultur übertragen lassen, und was das konkret bedeuten würde.
Das ist natürlich nur ein erster Einstieg, der noch gar nicht bis zur Idee des
Sozialen oder zu Fragen der Wissenschaftphilosophie oder zu verschiedenen
Formkonzepten vordringt. Aber ich will diese Mail nicht zu lang werden lassen.
Lieber David,
welche Funktion kann die Einbeziehung buddhistischen Gedankenguts für unsere
Diskussionen haben? Mir fällt dazu ein Text ein, den wir im Weizsäcker-AK mal
gelesen haben, war er von Sloterdijk?, wo es um das Licht und das Dunkel ging,
um Tag und Nacht, um den Durchgang durch den Hades, oder irgendsowas, um
Rationalität und Mystik jedenfalls. Es geht uns um Orientierungswissen, und
wenn es uns darum geht, dürfen wir nicht den Fehler machen, das Dunkle und
Irrationale außer acht zu lassen, auch darüber scheinen wir uns einig zu sein.
Und unter allen Traditionen, die Zugang zum Mystischen haben, scheint mir der
Buddhismus eine besonders rationale zu sein. Im Buddhismus ist Philosophie nur
eine von vielen Facetten seiner Aktivität, und es ist diejenige Facette, die es
sich zur Aufgabe gemacht hat, das Verhältnis von Rationalität und Mystik von
der rationalen Seite her zu klären. Deshalb, so scheint mir, eignet der Buddhismus
sich besonders gut dafür, das Element des Irrationalen in unsere Diskussionen
zu integrieren.
Man kann nicht alles auf einmal reformieren, diesen Gedanken hast Du mir an der
Bushaltestelle mit auf den Weg gegeben. Das ist zweifellos wahr. Und doch war
Buddhas Erwachen eine besonders radikale Reform, sie war total im Hinblick auf
seinen Geist, während sein Körper vorläufig (bis zu seinem Tod 40 oder 50 Jahre
später) in gewissem Sinne der selbe blieb. So radikal, dass wir Anderen uns
nicht vorstellen können, eine ähnlich radikale Reform zu durchleben. Die
meisten Buddhisten, die ich kenne, trösten sich damit, dass die Sache mit dem
Erwachen ja nicht unbedingt schon in diesem Leben erledigt werden müsse. Was
oft nur eine faule Ausrede dafür ist, dass sie nicht praktizieren.
Im Hinblick auf das theoretische Denken geht es mir darum, eine andere Haltung
zu gewinnen, als unsere wissenschaftliche Tradition sie pflegt. Wenn ich davon
ausgehe, dass meine ganz persönliche Exsitenz- und Denkweise von einem fundamentalen
Selbstmissverständnis geprägt ist, dann werde ich weniger geneigt sein, die
Welt, den Kosmos, die Kultur, die Gesellschaft, die Natur, oder ähnlich
universelle Gegenstände in ihrem Sein oder in ihrer Funktionsweise beschreiben
oder verstehen oder erklären oder beherrschen zu wollen. Ich werde nicht
glauben, dass mir das auch nur entfernt möglich ist, wenn es mir schon nicht
gelingt, mich selbst angemessen zu verstehen oder zu beherrschen. Es geht mir
darum, eine Haltung der theoretischen Demut zu gewinnen. In diesem
Impuls sehe ich mich einig mit Weizsäckers Nachdenken über die Machtförmigkeit
der Wissenschaft und seiner Suche nach einer anderen Art von Wissenschaft, die
nicht machtförmig ist.
Die Haltung der theoretischen Demut verlangt nicht, mit dem theoretischen
Denken aufzuhören, aber sie legt einen anderen Stil des theoretischen Denkens
nahe. In meiner letzten Mail habe ich vorgeschlagen, unsere Kultur so zu
denken, dass sie in einem fundamentalen Selbstmissverständnis gegründet ist,
indem sie ihre Identität durch ein Getrenntsein von der Natur und durch die
Vorstellung der Beherrschbarkeit der Natur definiert. Dieses kulturelle
Selbstmissverständnis korrespondiert mit meinem eigenen Selbstmissverständnis
als ein Ich, das vom Rest der Welt getrennt ist und glaubt, sein Denken und
Handeln beherrschen zu können; das kulturelle Selbstverständnis ist
gewissermaßen nur eine Verlängerung meines eigenen Selbstmissverständnisses,
oder umgekehrt, mein eigenes Selbstmissverständnis ist nur ein spezifischer
Ausdruck des kulturellen Selbstmissverständnisses. Unter diesem Ansatz kann ich
etwas über das Wesen der Kultur erahnen, aber nur in dem Maße, in dem ich etwas
über das Wesen meines eigenen Selbstmissverständnisses erahne. Unter diesem
Ansatz ist das theoretische Nachdenken über Kultur immer angebunden an die
Arbeit an mir selbst, nicht zuletzt auch an die Arbeit an meinen emotionalen
Blockaden, die mich daran hindern, zu sehen, was in meinem Leben wirklich los
ist.
Das ist etwas ganz anderes, als wenn ich sage, die Gesellschaft ist ein System,
das in die Natur als ihre Umwelt eingebettet ist. Wenn ich das sage, bin ich
dem kulturellen Selbstmissverständnis schon auf den Leim gegangen, habe es mir
zu eigen gemacht, als unhinterfragbare Wahrheit. Dann kann es nur noch um
Offenheit oder Geschlossenheit des Systems gehen, vielleicht auch noch um
Selbstreferenz, etwa um das Verhältnis zwischen der Wissenschaft als Subsystem
und Gesellschaft als Supersystem, vielleicht auch noch um die
selbstreferenzielle Bestimmung und Selbstkorrektur der systemtheoretischen
Begrifflichkeit, vielleicht auch noch um dadurch induzierte reale und
begriffliche Komplexitätszuwächse etc. etc., aber der Zugang bleibt ein
äußerlicher, distanzierter. Es fehlt ihm die Demut. Gestern habe ich übrigens
begonnen, Luhmanns Theorie sozialer Systeme zu lesen.
Das kulturelle Selbstmissverständnis hat seine Quelle in der Naturwissenschaft,
und es ist verkörpert in der Technik, bis hinein ins letzte Bit des Computers,
auf dem ich gerade schreibe. Vor kurzem habe ich "The Metaphysical
Foundations of Natural Science" von E. A. Burtt gelesen, da kriegt man
haarklein vorgeführt, wie das naturwissenschaftliche Weltbild sich aus dem
mittelalterlichen Denken herausentwickelt hat. In der verständlichen Begeisterung
über die mathematische Berechenbarkeit der Natur hat man völlig übersehen, dass
man damit die Dichotomie von Natur und Kultur überhaupt erst erzeugt hat, und
bis heute ist kein Ausweg aus dieser Dichotomie in Sicht. In der
Naturwissenschaft zeigt die Dichotomie von Kultur und Natur sich performativ
als die Dichotomie zwischen dem Subjekt der Wissenschaft und dem Objekt oder
Gegenstand der Wissenschaft. Sie ist dort besonders scharf ausgeprägt,
besonders in der Physik, bedingt durch den Einsatz von Mathematik, die jede Art
von Selbstreferenz unterbindet. Schon in der Biologie ist die Dichotomie nicht
ganz so scharf ausgeprägt, aber doch sehr stark wirksam, was man z.B. daran
sieht, dass der biologische Mainstream großen Wert darauf legt, jegliche teleologische
Denkweise als unwissenschaftlich zu verbieten. In der Volkswirtschaftslehre ist
die Dichotomie dann wieder sehr stark ausgeprägt, weil auch sie in ihrer
unnachahmlichen Naivität stark auf Mathematisierung setzt. In der Soziologie
ist die Dichotomie insofern durchbrochen, als hier viel von Selbstreferenz die
Rede ist, dennoch scheint mir, selbst bei Luhmann, eine nicht vernachlässigbare
Trennung zwischen dem, der theoretisiert, und dem, worüber theoretisiert wird,
performativ am Werk zu sein. Auch Luhmanns Soziologie ist in ihrer
Grundintention deskriptiv ausgerichtet, oder belehre mich bitte eines Besseren.
Die performative Getrenntheit zwischen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft
einerseits und ihrem wissenschaftlichen Gegenstand andererseits ist ein
spezifischer Ausdruck des kulturellen Selbstmissverständnisses, oder des
egologischen Selbstmissverständnisses des Individuums, nicht nur in den
Naturwissenschaften, sondern in jeder Wissenschaft. Das Wir der
wissenschaftlichen Gemeinschaft ist eine Extension des individuellen Ich. Mit
dem Postulat der Objektivität versteckt das Ich sich hinter dem
wissenschaftlichen Wir. In der Soziologie hat das Objektivitätspostulat nur
einen schwachen Gültigkeitsanspruch, aber so ganz kann ihn nach meinem Verständnis
auch ein Luhmann nicht aufgeben, wenn die Soziologie nicht aufhören will, eine
ernstzunehmende Wissenschaft zu sein. Oder wie siehst Du das?
Wenn ich mir überlege, was Rolf Kaehr wohl gegen Luhmanns
Günther-Interpretation hat, glaube ich, dass seine Abneigung gar nicht der
spezifischen Günther-Interpretation durch Luhmann gilt, sondern sie gilt
schlechthin der Unangemessenheit des Versuchs, Günthers Theorie für die
Soziologie zu vereinnahmen. Eine trans-klassische oder trans-identische
Theorieform wie die Günthersche kann im Rahmen einer rein deskriptiven
Theorie nur fragmentarisch und verflacht vereinnahmt werden, wodurch sie
wirkungslos wird. Die performativ wirksame Subjekt-Objekt-Dichotomie der
Soziologie erzwingt, dass die Soziologie performativ monokontextural bleiben
muss, auch wenn in ihr noch so oft Wörter wie polykontextural, heterarchisch,
Vermittlung, transjunktional undsoweiter vorkommen.
Zusammenfassung: Der Glaube an die Gegebenheit des Ich ist der Geburtsfehler
des abendländischen Denkens. Er äußert sich in der Philosophie darin, dass man
von einem irgendwie bestimmten transzendalen Subjekt nicht wirklich loskommt.
Er äußert sich in den Wissenschaften darin, dass sie performativ in einer
Dichotomie zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Wissenschaft stecken
bleiben. In den Naturwissenschaften wird die Dichotomie besonders strikt, sie
wird zu einer Disjunktion, derart dass im Objektbereich keinerlei Subjektivität
vorkommen darf und dass das Subjekt im Objektbereich nicht vorkommen darf.
Darauf beruht die hohe Machtförmigkeit der Naturwissenschaft und die
Möglichkeit einer naturbeherrschenden Technik. Aus der performativen
Subjekt-Objekt-Dichotomie der Naturwissenschaft entsteht im philosophischen
Umfeld der Naturwissenschaft die ontologische Dichotomie von Körper und Geist,
oder von Natur und Kultur. Indem unsere Gesellschaft sich die Macht über die
Natur ungebremst zu eigen macht, definiert sie sich selbst als das Andere der
Natur.
Die Form des Ich oder die Form der der Ich-Welt-Relation ist nichts anderes als
die Form der Identität. Als nächsten Schritt wird es um die Frage nach
Formkonzepten jenseits der Form der Identität gehen, und um die Frage, ob sich
daraus bislang unbekannte Möglichkeiten für Denken und Theorie, für Handeln und
Technik, für Gesellschaft und Kultur ergeben. So viel für heute.
Lieber
David,
vielleicht sehen wir uns ja nächste
Woche in München. Unabhängig davon, bzw. vorbereitend für unsere Gespräche in
München, möchte ich gern meine kulturtheoretischen Überlegungen ein wenig
genauer darstellen. Von Soziologie oder Philosophie oder überhaupt von Kultur-
und Geisteswissenschaft verstehe ich ja nicht viel, die Quellen meines Wissens
sind, wie Du weißt, (1) Mathematik und Metamathematik, (2) Angewandte
Wissenschaftstheorie, speziell angewandt auf VWL und Physik, (3) Praxis und
Philosophie des Buddhismus, (4) einige formale Elemente im Werk Gotthard
Günthers. Aus diesen Quellen haben sich im Laufe der Jahre ein paar Denkfiguren
entwickelt, die ich gern im Dialog mit Dir und anderen auf ihre
Anschlussfähigkeit an öffentliche Diskurse prüfen möchte.
Ich habe in meiner letzten Mail behauptet, dass die abendländische Kultur in
einem Selbstmissverständnis gegründet ist. Damit ist impliziert, dass
Kultur ein Ort ist, an dem Verständnis und Missverständnis, Selbstverständnis
und Selbstmissverständnis geschehen können, und damit ist impliziert, dass wir,
Du und ich, an diesem kulturellen Geschehen von Verständnis, Missverständnis,
Selbstverständnis und Selbstmissverständnis teilhaben. Damit bewegen wir uns
vermutlich in der Nähe dessen, was Luhmann Sinn nennt? Bei Luhmann ist
jedoch, wenn ich recht sehe, das Verhältnis von Sinn und Unsinn anders
organisiert als das Verhältnis von Verständnis und Missverständnis. Unsinn gibt
es bei Luhmann nur im Reich der Zeichen, Missverständnis jedoch durchzieht
unser Leben und unsere kulturellen Aktivitäten durch und durch, zum Beispiel
auch unseren Dialog, und die Behauptung ist, dass das (Selbst-)Missverständnis
grundlegender ist als das (Selbst-) Verständnis. Das ist sozusagen die
buddhistische Komponente meiner Kulturtheorie.
Auch über den Inhalt des kulturellen Selbstmissverständnisses habe ich eine Aussage gemacht (dass Kultur sich als das Andere der Natur versteht), und ich will den Gedankengang, der mich dort hin geführt hat, etwas ausführlicher darstellen. Mein Ausgangspunkt ist hier die Mathematik. Verständnis und Missverständnis hat viel mit Sprache zu tun, und die Mathematik ist eine ganz besondere Sprache. Mathematik ist erstens eine Formalsprache, d. h. eine regeldefinite Schriftsprache, und zweitens eine rein deskriptive oder denotative Sprache, und damit meine ich eine Sprache, deren einzige Funktion das Sprechen über Etwas ist. Darin unterscheidet die Mathematik sich z.B. von Programmiersprachen, die ebenfalls Formalsprachen sind, deren Funktion jedoch operativer Natur ist. Darüberhinaus schließt das grammatisch-logische Regelwerk der Mathematik jede Art von Selbstreferenz aus. Das ist nötig, weil in einer solchen Sprache Selbstreferenz zwangsläufig zu logischer Inkonsistenz führt, wodurch sie unbrauchbar würde.
Die Mathematik operiert also auf der nullten, der irreflexiven Reflexionsstufe, die Gotthard Günther, wohl in Anlehnung an Hegel, als Reflexion in Anderes bezeichnet. Die erste Reflexionsstufe, die Reflexion in Sich, wurde mit der Metamathematik erreicht. Nachdem die Formalisierung der Mathematik vollzogen war, wurde klar, dass zur Mathematik, als Prozess, drei Komponenten gehören: 1. Die Zeichenreihen, als Material, 2. Der Mathematiker, als ein Subjekt, das Zeichenreihen manipuliert, 3. Ein Regelwerk, das die Freiheit des Subjekts bezüglich der Manipulation von Zeichenreihen einschränkt. Die Metamathematik thematisiert die Komponenten 1. und 3., sie untersucht nicht das Subjekt oder seine Tätigkeit, sie untersucht nur den Möglichkeitsraum für die Tätigkeit des Subjekts, der durch das Material und das Regelwerk definiert ist.
Die Bedeutung, der Inhalt, die Semantik, also das, worüber gesprochen wird, bleibt für das Subjekt der Mathematik unbestimmt. Die Sprache der Mathematik spricht über ein abstraktes Universum, dessen Elemente nichts als ihre Identität und ihre wechselseitige Bezogenheit durch ein hierarchisches Gerüst von Eigenschaften und Relationen haben. Erst auf der metamathematischen Reflexionsstufe kann über Semantik, über das Verhältnis von Sprache und Inhalt gesprochen werden. Im Kontext der metamathematischen Modelltheorie wird präzise definiert, was eine Interpretation (eines Kalküls durch ein Universum) ist. Die Modelltheorie gibt auch konkrete Universen an, die sich als Modelle für bestimmte Kalküle eignen. Fragt man nach, aus welchem Material diese Universen gebaut sind, so stellt sich heraus, dass es sich dabei ausnahmslos um Universen handelt, die aus Zeichenreihen durch Regelsysteme zu deren Transformation generiert werden. Das heißt, Zeichenreihen sind das einzige Material, das von den modernen Mathematikern selbst als zulässiges Anwendungsfeld für Mathematik akzeptiert und thematisiert wird. Insofern erreicht die Mathematik mit der Entwicklung der Metamathematik nicht die zweite Hegelsche Reflexionsstufe, die Stufe der Reflexion in sich der Reflexion in sich und anderes.
Im Sinne ihres modernen, durch Formalisierung und Metamathematik geprägten Selbstverständnisses, ist die Mathematik eine Erfahrungswissenschaft, deren Gegenstand der regeldefinite Gebrauch von Zeichenreihen ist. Faktisch wird Mathematik auf zahlreiche andere Erfahrungsbereiche angewandt, und historisch ist sie ja auch anhand ganz anderer Erfahrungsbereiche entstanden, aber die formale Rekonstruktion der Mathematik scheint mir etwas vom Wesen der Mathematik erfasst zu haben. Im Hinblick auf die Anwendung von Mathematik stellt sich damit die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Erfahrung mit der regeldefiniten Manipulation von Zeichenreihen und anderweitiger Erfahrung, aber diese Frage wird in der Metamathematik nicht gestellt. Sie wird meines Wissens auch in der Philosophie nirgendwo gestellt, das könnte vielleicht eine Aufgabe für die Phänomenologie sein. Die zweite Reflexionsstufe der Mathematik, die Reflexion in sich der Reflexion in sich und anderes, ist nicht erreicht, sie fehlt. Wenn Gotthard Günther das selbst so klar gesehen hätte, dann hätte er sich bei seinem Briefwechsel mit Kurt Gödel sicher leichter getan, als es tatsächlich der Fall war.
Nun komme ich zur Physik, der nächsten Etappe meiner selbstgestrickten Kulturtheorie. Zur Zeit von Kopernikus, Galilei und Newton stand die Mathematik noch auf ihrer nullten Reflexionsstufe, und man hat damals noch gar nicht klar zwischen Geometrie und Astronomie, zwischen Mathematik und Physik unterschieden. So operiert die Physik seit den Zeiten ihrer Entstehung auf der nullten Reflexionsstufe, und mir ist nicht bekannt, dass sich seitdem etwas daran geändert hätte. Dass die Mathematik durch die Entwicklung der Metamathematik inzwischen (seit Anfang 20. Jahrhundert) die erste Reflexionsstufe erklommen hat, hat sich nicht bis zur Physik herumgesprochen, es ist auch für die Physik nicht unmittelbar relevant. Und die Physik selbst hat ihre erste Reflexionsstufe noch nicht erreicht. Die Frage nach der Rolle des Subjekts der Physik in der Physik ist zwar spätestens mit der Quantenphysik (ebenfalls Anfang 20. Jahrhundert) unabweisbar geworden, und sie hat zu endlosen Debatten über die Interpretation der Quantenphysik geführt, aber seit von Neumann den Hilbertraum als die mathematische Fundamentalstruktur der Quantenphysik gefunden hat, herrscht über die mathematische Form der Quantenphysik Einigkeit. Die endlosen Interpretationsdebatten sind hilflose Anläufe zum Erreichen der ersten Reflexionsstufe der Physik. Meine These ist, dass die Physik ihre erste Reflexionsstufe nicht erreichen kann, so lange nicht die Mathematik ihre zweite Reflexionsstufe erreicht.
Eine Wissenschaft, die auf der nullten Reflexionsstufe operiert, beruht auf der strikten Trennung zwischen dem Subjekt der Wissenschaft und dem Gegenstand der Wissenschaft. Die Unfähigkeit zur Reflexion oder das Verbot von Selbstreferenz verhindert, dass das Subjekt der Wissenschaft im Gegenstandsbereich vorkommt, so dass es sich selbst thematisieren könnte, und verhindert damit auch, dass Subjektivität überhaupt als ein Ingredienz des Gegenstandsbereichs wahrgenommen werden könnte. Das mag dem Kultur- und Geisteswissenschaftler als eine spezielle Rückständigkeit und Borniertheit der Naturwissenschaft erscheinen, die schon lange überwunden ist. Zum Beispiel gehört Selbstreferenz zum unverzichtbaren begrifflichen Inventar der Luhmann'schen Soziologie. Aber die Physik hat etwas anderes, das der Soziologie abgeht, sie hat den Schlüssel zur Macht über ihren Gegenstandsbereich. Und dieser Schlüssel weist der Physik auch eine Schlüsselrolle hinsichtlich der geistigen Entwicklung unserer Kultur zu. So ist es zu erklären, dass die performative Subjekt-Objekt-Dualität der Physik im philosophischen Umfeld der Physik zur Entwicklung einer Dualität von Geist und Materie geführt hat, die im ontologischen Dualismus von Descartes gipfelte. Das kann man z.B. sehr schön bei E. A. Burtt, The Metaphysical Foundations of Modern Physical Science, nachlesen. Und diese Dualität ist hartnäckig, sie durchdringt das ganze abendländische Denken. Sie lässt sich nicht leicht aufgeben, weil an dieser Dualität die Macht der Kultur über die Natur hängt, und weil an dieser Macht die Technik hängt, und weil an der Technik unser Wohlstand hängt.
So ist das Reflexionsdefizit der Physik in Verbindung mit der Machtförmigkeit der Physik zur Grundlage für das Selbstmissverständnis unserer Kultur als das Andere der Natur geworden. Wie kann dieses Selbstmissverständnis überwunden werden? Eine Möglichkeit lässt sich aus dem bisher Gesagten ableiten. Die Mathematik muss den Schritt zur zweiten Reflexionsstufe vollziehen, sie muss das Verhältnis zwischen der Erfahrung mit dem regeldefiniten Zeichengebrauch und anderweitiger Erfahrung thematisieren und klären. In diesem Zusammenhang wird eine Klärung des Identitätskonzepts, welches für den regeldefiniten Zeichengebrauch konstitutiv ist (für anderweitige Erfahrung hingegen im Allgemeinen nicht), unerlässlich sein. Dann kann sich insbesondere das Verhältnis zwischen Mathematik und Physik klären, und dann kann die Physik den Schritt zu ihrer ersten Reflexionsstufe machen, indem sie die Rolle des Subjekts der Physik in der Physik klärt. Und schließlich muss die Physik irgendwann auch den Schritt zu ihrer zweiten Reflexionsstufe machen, indem sie das Verhältnis zwischen regeldefiniter Schrifterfahrung, Naturerfahrung und anderweitiger Erfahrung thematisiert und klärt. Als Folge davon würde zwangsläufig der Begriff von Technik sich radikal verändern. Gotthard Günther und seine Anhänger sehen die Notwendigkeit einer Transformation des Technikbegriffs sogar als Triebfeder einer derartigen Entwicklung.
All dies ist nur ein erster Einstieg in kulturtheoretische Überlegungen, der die Themen Sozialität und Ökonomie noch gar nicht berührt hat.
Lieber David,
für jetzt nur eine kurze Nachricht. Diese Woche habe ich angefangen, Luhmanns
"Ökologische Kommunikation" zu lesen. Besonders interessant fand ich
die Kapitel "Beobachtung von Beobachtung" und "Binäre
Codierung", besonders gespannt bin ich auf das Kapitel
"Wissenschaft", das mir noch bevorsteht. So bald ich mit dem Buch
durch bin, werde ich mich dazu äußern, wie meine Überlegungen zu denen Luhmanns
in Beziehung stehen. Mich interessiert die Frage, was aus Luhmanns Arbeit für
die Praxis folgt. Zum Beispiel: Können wir aus Luhmann'schem Wissen über
Kommunikation etwas Nützliches für die Praxis unserer eigenen Kommunikation
lernen?
Lieber David,
mir scheint, unser Dialog braucht ein Thema, oder vielleicht auch eine Sequenz
von Themen. Wo können wir anfangen? Ich denke, wir können beim Begriff der Kommunikation
anfangen, erstens weil Kommunikation die Existenzform des Dialogs zwischen Dir
und mir ist, so dass wir bezüglich dieses Themas eine direkte gemeinsame
Erfahrungsgrundlage haben, und zweitens weil Kommunikation eine grundlegende
systemtheoretische Kategorie ist. Kommunikation ist, wenn ich recht verstehe,
das Medium, in dem sich Systeme ausbilden.
Wenn wir ein Luhmann'sches Reflexionsniveau zugrunde legen, verändert sich der
Begriff der Kommunikation. Diese Veränderung möchte ich gern explizieren und
praktisch fruchtbar werden lassen. Vielleicht können wir zwischen trivialer
Kommunikation und nicht-trivialer Kommunikation unterscheiden, oder
vielleicht besser zwischen einer trivialen und einer nicht-trivialen Konzeption
dessen, was Kommunikation ist. Kommunikation ist Kommunikation, aber wir haben
die Möglichkeit, uns ein triviales Bild dessen zu machen, was dabei geschieht,
oder ein nicht-triviales Bild.
Das triviale Bild von Kommunikation ist dasjenige von Shannon. Da gibt es einen
Sender und einen Empfänger, da fließt Information vom Sender zum Empfänger, und
dann kann der Empfänger zum Sender werden und der Sender zum Empfänger, derart
dass Information in beiden Richtungen fließen kann. Vorausgesetzt ist dabei
eine Semantik, die beiden Subjekten gemeinsam ist, eine eindeutige Bedeutung
der Wörter und Sätze, die da ausgetauscht werden, und damit ein beiden
Subjekten gemeinsames semantisches Universum, in dem diese Bedeutungen ihren
Sinn haben.
Das nicht-triviale Bild von Kommunikation beginnt mit der Einsicht, dass
semantische Universen nicht gegeben sind, sondern konstruiert werden müssen.
Das Medium der Kommunikation ist Sprache, Sprache bezieht sich auf Erfahrung,
und zwar auf solche Erfahrung, die nicht notwendigerweise sprachliche Erfahrung
ist; nennen wir sie thematische Erfahrung. Das Erfahrungssystem Sprache gründet
sich in der Einheit der Differenz von sprachlicher Erfahrung und thematischer
Erfahrung. Die triviale Sichtweise dieser Differenz ist die Referenz oder
die Semantik oder die Bedeutung. Wenn es uns darum geht, das nichttriviale Bild
von Sprache und Kommunikation zu explizieren, wird es darum gehen, das
Verhältnis zwischen sprachlicher Erfahrung und thematischer Erfahrung neu zu
bestimmen, jenseits der Bedeutungsrelation.
Wir können nun in den Werkzeugkasten der dialektischen Denkfiguren greifen und
das Verhältnis zwischen Sprache und Thema als ein chiastisches Verhältnis
bestimmen. Ein chiastisches Verhältnis zweier Pole ist ein symmetrisches
Verhältnis, das in zwei asymmetrische Verhältnisse zerfällt. Spracherfahrung
und thematische Erfahrung sind differente Erfahrungen, jede hat ihre eigene
innere Dynamik und Resonanzfähigkeit. Beide Prozesse geschehen gleichzeitig und
interagieren miteinander, prägen sich gegenseitig, resonieren miteinander.
Semantik ist nur ein mögliches Ergebnis dieses Prozesses, und die Beschränkung
auf dieses eine Ergebnis Semantik erzeugt die Asymmetrie des trivialen
Sprachverständnisses. Beim Übergang zum nicht-trivialen Verständnis wird es
darum gehen, die Bedeutungsrelation chiastisch aufzubrechen und das
Verhältnis von Spracherfahrung und thematischer Erfahrung symmetrisch zu
konzipieren.
Nun war mein Vorschlag, Kommunikation zum Thema zu machen, und in diesem Fall
ist die thematische Erfahrung nichts anderes als die sprachliche Erfahrung. Das
Kommunizieren über Kommunikation ist eine selbstreferenzielle Angelegenheit. Es
wird darum gehen, die Einheit der Differenz von Sprache als Medium und Sprache
als Thema zu kommunizieren. Hier führt die Idee von Semantik sich ganz von
selbst sehr schnell ad absurdum. Was tritt an ihre Stelle?
In der Kommunikation gibt es Brüche. Nehmen wir die Mitteilung als atomares
Element der Kommunikation, dann gibt es einen Bruch zwischen der Intention und
der Mitteilung, und einen zweiten Bruch zwischen der Mitteilung und der
Interpretation. Das triviale Bild von Kommunikation setzt ganz unschuldig
voraus, dass Intention und Interpretation gleich sind. Aber wie können sie
gleich sein? Was würde es überhaupt bedeuten, dass sie gleich sind? Von welchem
Standpunkt aus könnten wir entscheiden, ob sie gleich sind? Es gibt keine
Gleichheit oder Ungleichheit von Intention und Interpretation, alles es was
gibt sind zwei Brüche, sowie eine Mitteilung und eine Intention und eine
Interpretation. Wie hängen Intention und Interpretation zusammen, wenn sie
nicht gleich und nicht ungleich sind? Hängen sie überhaupt zusammen?
Lieber David,
nun ist ja die alte Idee von Semantik nicht völlig impotent. Es gibt zwischen
uns, wie sie zwischen autopoietischen Systemen immer wieder entstehen können,
durchaus konsensuelle Bereiche, es gibt eine ganze Reihe von Wörtern, mit denen
Du und ich eine gemeinsame Semantik verbinden, anders könnten wir uns ja gar
nicht verstehen. Auf unserem Reflexionsniveau verbinden sich jedoch mit diesen
konsensuellen Bereichen drei Fragen. 1: wie sind sie entstanden? 2: wie weit
tragen sie? Und 3: wie funktioniert Kommunikation jenseits oder über das
hinausgehend, was durch eine gemeinsame Semantik in konsensuellen Bereichen
vermittelt ist?
Zu 1.: Die Frage heißt genauer: wie kann zwischen meinen Intentionen und Deinen
Interpretationen meiner Mitteilungen (und umgekehrt) eine Gleichheitsrelation
eingeführt werden? Diese Frage verweist auf inhaltliche Erfahrungen, die wir
gemeinsam haben, denn nur solche können zwischen einem Wort und einem Inhalt
eine semantische Relation herstellen, über die wir gemeinsam verfügen.
Vielleicht verweist die Frage auch auf so etwas wie "gesellschaftliche
Vermittlung", aber damit investieren wir ein hochtheoretisches Konstrukt,
und damit würde ich lieber vorsichtig sein, wenn wir auf einem philosophisch
grundlegenden Niveau argumentieren wollen. Aus diesem Grund präferiere ich
unsere Kommunikation als Thema, denn das ist etwas, das wir tatsächlich als
Erfahrung gemeinsam haben.
Zu 2: Aus buddhistischer Sicht trägt eine konventionelle Semantik durchaus ein
Stück weit, in praktischer Hinsicht, in einem relativen Sinn. Sie trägt uns mit
dem gesunden Menschenverstand durch unseren Alltag, und relativ ist
diese Semantik zu den Wichtigkeiten unseres Alltags. Aber unter einem
grundsätzlichen Gesichtspunkt, unter Außerkraftsetzung der Wichtigkeiten des
Alltags, in letztendlicher Analyse, wie die buddhistischen Philosophen
sagen, trägt eine konventionelle Semantik überhaupt nicht. Es gibt nichts
Begriffliches, an das wir uns halten könnten, jenseits der Wichtigkeiten
unseres Alltags. Das können wir uns also einfach abschminken. Es mag trivial
sein, aber mir ist es wichtig, das festzuhalten: Du und ich gemeinsam wissen
letztendlich überhaupt nichts Gemeinsames, sofern Wissen etwas ist, das sich in
Worten ausdrücken lässt und das eine eindeutige Bedeutung hätte. Indem wir das
wissen, wissen wir so viel wie Sokrates, vielleicht sogar ein klein wenig mehr.
Wir wissen nicht nur, dass wir nichts wissen, sondern wir wissen auch, dass wir
nichts wissen können. Also können wir den Erwerb von gemeinsamen Wissen als
mögliches Ziel unsere Dialogs von vornherein ausschließen.
Kommunikation zwischen Dir und mir, verstanden im trivialen Sinn, macht also
nur Sinn, wenn wir uns darin den Wichtigkeiten unseres Alltags unterwerfen.
Somit stellt sich die Frage: Ist der Dialog zwischen Dir und mir in die
Wichtigkeiten unsere Alltags eingebunden? Oder vielleicht auch die Frage:
Wollen wir unsen Dialog in irgendwie bestimmter Weise mit den Wichtigkeiten
unseres Alltags in Beziehung setzen? Nur wenn wir die Schnittstelle zwischen
Spracherfahrung und thematischer Erfahrung einigermaßen klar bestimmen, kann
unser Dialog an Relevanz und Präzision gewinnen.
Zu 3.: Hier liegt nach meinem Verständnis ein empirisches Feld vor, das wir
erforschen könnten. Es gibt wenig Wissen darüber, wie Kommunikation jenseits
des Konsens funktioniert. Wir reden da gern mit Günther über diskontexturale
oder transkontexturale Operatoren, über Transjunktions- und
Vermittlungsoperatoren und Ähnliches, aber das sind erst mal nur Wörter,
bedeuten sie überhaupt etwas? Und was bedeuten sie? Wie operieren die Operatoren,
die da bedeutet sind? Das würde ich gern genauer verstehen. Man kann es, glaube
ich, theoretisch nicht verstehen. Man muss es empirisch erforschen. Hast Du
Lust dazu?
Lieber David,
da ich in der glücklichen Lage bin, dass die Wichtigkeiten meines Alltags mich
nicht den ganzen Tag lang beschäftigen, arbeite ich einfach mal an unserer
Korrespondenz weiter. Dieser Freiraum oder diese Freizeit, die meine
gegenwärtige Lebensweise mir schenkt, gibt mir die Möglichkeit, mich mit
Wissenschaft zu beschäftigen, und zwar ohne jeden Zwang, einen irgend
wertvollen Output zu erzeugen. Manchmal tendiere ich dazu, diese Beschäftigung
mit Wissenschaft als meinen "Beruf" zu stilisieren, manchmal sogar in
dem konkreten Sinn, dass meine Arbeit darin bestünde, "ein Buch zu
schreiben". Das sind Versuche, mich selbst zu definieren, meiner faulen
Existenz eine gesellschaftlich akzeptable Farbe aufzumalen; vielleicht auch
Versuche, mich selbst unter Druck zu setzen, jenen Zwang zu simulieren, der
mich nötigt, beim wissenschaftlichen Arbeiten auf Verwertbarkeit zu achten. Das
hat aber faktisch alles nicht funktioniert, also habe ich es aufgegeben, und
dabei stelle ich fest, dass meine faule Existenz auch ohne Farbanstrich recht
gut lebbar ist.
Tatsächlich beobachte ich, dass ich nicht mehr schreiben kann, ohne einen
konkreten Leser oder Gesprächspartner vor Augen zu haben. In den ersten Jahren
nach meiner Siemens-Zeit war ich wissenschaftlich völlig isoliert, und deshalb
habe ich mir die Physik als Thema gewählt, und die Physiker oder
Physikphilosophen als Adressaten. Unter allen empirischen Wissenschaften ist
die Physik die klarste und am stärksten strukturierte, und diese Struktur
impliziert so etwas wie das Bewusstsein eines typischen Physikers. Also habe ich
mich daran gemacht, die Struktur dieses Bewusstseins zu erforschen und in
dieses Bewusstsein als Adressat meiner Texte hinein zu schreiben. Daraus hätte
ein Buch werden können, wenn ich selbst ein Physiker gewesen wäre, oder wenn
ich einen lebendigen Physiker als Gesprächspartner gefunden hätte.
Dabei war die Botschaft meines ungeschriebenen Buches eigentlich schon relativ
klar. Das Buch wäre eine Reaktion auf die verzweifelte Suche der Physiker nach
einer Theorie, welche die Phänomene der Gravitation in das kinematische Schema
der Quantentheorie integriert. Die Botschaft des Buches wäre, dass diese Suche
vergeblich ist, und der Inhalt des Buches bestünde darin, diese Vergeblichkeit
nicht gerade zu beweisen, aber doch intuitiv einsichtig und plausibel zu
machen. "Wenn die Welt sich selbst beobachten will, muss sie einen Schnitt
legen, zwischen das, das beobachtet, und das, das beobachtet wird", sagt
Luhmann. Der Witz ist der, dass die Physik zwei grundverschiedene Schnitte in
die Welt gelegt hat, einen klassischen und einen quantischen Schnitt. Die
Physik versteht den Zusammenhang zwischen diesen beiden Schnitten nicht, was
sich in den Paradoxien der quantentheoretischen Interpretationen zeigt. Man
kann diesen Zusammenhang nicht verstehen, so lange das Identitätsprinzip
regulativ in Kraft ist. Die Differenz der beiden Schnitte liegt nämlich gerade
in der Art und Weise, wie Identität erzeugt wird.
Um den Zusammenhang zwischen den beiden physikalischen Schnitten zu verstehen,
muss man die Prozesse der Identitätserzeugung untersuchen, vergleichen, und
miteinander in Beziehung setzen. Mit welchen Methoden kann das geschehen?
Sicher nicht mit den Methoden der Logik oder Mathematik, denn diese Methoden
setzen Identität stets voraus. Welche anderen Methoden gibt es? Hermeneutik und
Dialektik. Da es mir ums Verstehen geht, versuche ich es mit Hermeneutik. Eine
vergleichende hermeneutische Analyse der Prozesse der Identitätserzeugung in
der klassischen und quantischen Kinematik.
Was kommt dabei heraus? Gemeinsam ist beiden Kinematiken, dass Identität aus
dem Zusammenwirken von Subjekt und Objekt entsteht. Die Differenz zwischen
beiden Kinematiken liegt darin, dass der subjektive Beitrag in der klassischen
Kinematik nur ein denkender Beitrag ist, in der quantischen Kinematik aber ein
handelnder Beitrag (die Auswahl aus einem von mehreren möglichen
experimentellen Settings bezüglich ein und des selben Objekts). Deshalb
funktioniert unter der klassischen Kinematik der Projektionsprozess ganz
hervorragend, der den subjektiven Beitrag zur Identitätserzeugung ignoriert und
ins Objektive verschiebt, unter der quantischen Kinematik funktioniert er
hingegend gar nicht gut. Alle derartigen Projektionsversuche (und es gibt eine
Vielzahl davon) hinterlassen einen Rest von unverstandener Interpretation.
Es gibt eine gelungene Integration der speziellen Relativitätstheorie in die
quantische Kinematik, namens Quantenfeldtheorie. Sie ist empirisch
hocheffizient, aber mathematisch steht sie auf wackligen Füßen. Die Theorie
produziert divergente Doppelreihen, wodurch sie eigentlich unbrauchbar wird,
aber interessanterweise haben die Physiker faule Tricks gefunden, mit denen die
Divergenzen sich irgendwie wegrechnen lassen. Meine geplante hermeneutische
Analyse sollte zeigen, wie die Überlagerung der differenten
Identitätsbildungsprozesse aus klassischer und quantischer Kinematik einen
paradoxalen Sinnhintergrund bilden, der sich mathematisch in Divergenzen
ausdrückt. Und sie sollte zeigen, warum diese Paradoxizität im Fall der speziellen
Relativitätstheorie noch relativ harmlos ist, im Fall der allgemeinen
Relativitätstheorie jedoch notwendigerweise ein mathematisches Chaos erzeugt.
In jüngerer Zeit habe ich gottlob einige lebendige Gesprächspartner gefunden,
und daran warst Du maßgeblich beteiligt. So kann ich mich von der Fixierung auf
die Physik lösen und mich lebendigen Bewusstseinen zuwenden, die, wie ich,
einen wissenschaftlichen Hintergrund und wissenschaftliche Interessen haben.
Vielleicht sollten wir als zweites Thema unseres Dialogs
"Wissenschaft" hernehmen. Wieder könnten wir zwischen einer trivialen
und einer nicht-trivialen Auffassung von Wissenschaft unterscheiden, analog und
korrespondierend zum Kommunikationsbegriff. Und dann könnten wir versuchen,
herauszufinden, was es bedeuten könnte, eine explizit nicht-triviale
Wissenschaft zu betreiben. Nur als Vorschlag.
Lieber David,
gerade habe ich begonnen, "Der Begriff der Natur und seine
Geschichte" von Georg Picht zu lesen. Es spricht mir in jeder Hinsicht aus
dem Herzen. Pichts theoretische Haltung speist sich aus dem Wissen, dass
begriffliches Denken eine ganz spezielle und historisch späte, insofern auch
kontingente Erscheinung ist, die gerade jetzt unser Bewusstsein dominiert, im übrigen
aber in nicht allzu ferner Zukunft wieder aus dem Kosmos verschwunden sein
wird. Folglich wäre es unwahrscheinlich, dass ausgerechnet diese spezielle Form
von Erkenntnis eine superhistorische Wahrheit hervorbringen sollte. Und als
Beleg dafür, dass begriffliches Wissen nicht Ausdruck einer superhistorischen
Wahrheit sein kann, nimmt Picht die Tatsache, dass das begriffliche Denken im
naturwissenschaftlichen Denken gipfelt, und dass genau dieses
naturwissenschaftliche Denken ihren Gegenstand, die Natur, zerstört. Ein
Denken, das seinen Gegenstand zerstört, kann die Wahrheit dieses Gegenstands
nicht erfasst haben. Mit dieser begriffskritischen Haltung bezieht Picht sich
auch auf die Theologie, und damit passt sein Denken mit dem buddhistischen
Denken ganz hervorragend zusammen, auch da, wo es theologisch wird. Eine von
ihren Begriffen befreite Theologie ist nichts anderes als der Dharma. Picht
fügt dem buddhistischen Denken eine historische Dimension hinzu, und
artikuliert damit eine sehr wichtige Dimension, die dem Buddhismus (wie auch
mir persönlich) eher fremd ist. Ich pflege die Dinge eher von der
systematischen Seite her anzugehen, und bin glücklich, einen Philosophen
gefunden zu haben, der die gleichen Dinge von der historischen Seite her
angeht.
Picht findet auch sehr klare Worte für die (moderne) Logik: Er bezeichnet sie
als eine Form der Macht., und damit setzt er den Begriff der Macht dem
Begriff der Wahrheit gegenüber, den die Naturwissenschaft gern für sich in
Anspruch nimmt. Vielleicht hast Du Lust, mal in meinen einführenden Text unter www.rudolf-matzka.de/dharma
reinzuschauen, wo ich etwas ganz ähnliches sage. In Luhmanns Terminologie ist
die Logik mit ihrem wahr-falsch-Schema eine binäre Codierung. Nun liegt mir
daran, herauszuarbeiten, was das Spezifische der logischen Codierung in der
Physik ist, das der Physik so viel Macht verleiht. Um es direkt zu sagen: Es
ist die Rigidität, mit der dieser binäre Code den physikalischen Diskurs
dominiert. Die Rigidität der binären Codierung hat einen Preis, nämlich die
Unterdrückung jeglicher Selbstreferenz. Auch andere Systeme als die Physik
haben binäre Codes, aber solche Systeme lassen koexistent auch andere,
nicht-binäre Codes zu, insbesondere lassen sie auch Selbstreferenz zu. Die
physikalische Semantik ist jedoch strikt fremdreferenziell, und der binäre Code
ist ein exklusiver Code. Beides ist nur zusammen möglich.
Nun ist aber, performativ betrachtet, der Binärcode der Physik der
Fundamentalcode unserer Kultur. Ich habe mich nich recht getraut, das zu sagen,
aber da Picht es auch sagt, scheint es kein völlig abwegiger Gedanke zu sein.
Zumindest wenn man unsere Kultur unter dem Gesichtspunkt der Ökologie und der
Gefahr der Selbstzerstörung betrachtet.
Lieber David,
nehmen wir die Physik als Beispiel für eine (triviale) Wissenschaft. Sie ist
(im Sinne von Luhmann) definiert durch einen binären Code, und dieser hat (im
Sinne von Günther) seinen strukturellen Grund in dem kognitiven
Subjekt-Objekt-Schnitt, der das Selbstverständnis der Physik definiert (die
Kontextur der Physik). Ein Schnitt ist etwas anderes als eine Grenze. Der
Schnitt korrespondiert zum Code, die Grenze korrespondiert zu den Programmen
(so lese ich die Ökologische Kommunikation). Der Schnitt definiert die
intentionale Grenze des Systems Physik, das Selbstverständnis, die Identität,
aber Physik wäre ohne eine extensionale (institutionelle) Grenze kein System
und somit nicht lebensfähig.
Nun weist aber der Schnitt ein anderes Verhalten auf als die Grenze, wenn es um
den Zusammenhang zwischen Gesamtsystem und Teilsystemen geht. Die Grenze
separiert die Teilsysteme voneinander, der Schnitt hingegen gibt jedem der
Teilsysteme ein eigenes Selbstverständnis. Gehen wir davon aus, dass auch das
Gesamtsystem ein Selbstverständnis hat, dann muss dieses aus so etwas wie den
gesammelten Selbstverständnissen der Teilsysteme hervorgehen. Der Schnitt eines
Teilsystems leistet stets auch einen Beitrag für die Identität des
Gesamtsystems. Unsere Kultur, als System betrachtet, ist in diesem Sinne auch
ein phyikalisches System. Die physikalischen Programme sind nur innerhalb des
Systems Physik operativ, aber der physikalische Binärcode durchzieht unser
ganzes kulturelle Selbstverständnis gegenüber der Natur, und trägt, als
Technik, unseren materiellen Wohlstand.
Ein anderer fundamentaler Code unserer Kultur ist natürlich der ökonomische.
Die mathematische Ökonomik ist, als Sozialwissenschaft, grenzenlos naiv, aber
sie zeigt uns sehr deutlich, welche Konsequenzen es hat, wenn wir das
wissenschaftliche Subjektmodell den Regeln der Logik unterwerfen. Das
ökonomische Menschenbild ist nicht völlig falsch, es ist eine Karikatur, die
das Selbstmissverständnis dieses Subjekts überdeutlich aufzeigt. Anders als der
Homo Scientificus ist der Homo Oeconomicus nicht an Erkenntnis seines Objekts
interessiert, sondern er will von seinem Objekt einen ständigen und möglichst
großen Strom von Leistung beziehen und konsumieren, der die Fähigkeit hat, sein
Wohlbefinden zu steigern. Der Homo Oecnomicus ist eine
Subjekt-Objekt-Beziehung, in der das Subjekt Nutzen aus dem Objekt saugt. In
dieser Subjekt-Objekt-Beziehung liegt eine gewisse Widerständigkeit, das Objekt
gibt diese Leistung nicht gern ohne Arbeit her, und so lebt der Homo
Oeconomicus in dem unausweichlichen Dilemma der Unstillbarkeit seiner Wünsche.
Aus buddhistischer Sicht ist der Homo Oeconomicus ein Hungergeist, ein
Durstiger oder Süchtiger, der sich außerstande sieht, je zur Befriedigigung zu
kommen. Er saugt beständig Nutzen aus seinem Objektbereich, kann nicht genug
davon kriegen, leidet an der Widerständigkeit des Objektbereichs gegen das
Saugen von Nutzen. Die Physik ist ein Mittel, das bei der Beschaffung von
Nutzen aus der Natur sehr hilfreich ist. Insofern ist der ökonomische Binärcode
gegenüber der Natur sinngebend für den physikalischen Binärcode gegenüber der
Natur, was Karl-Heinz Brodbeck in der "Herrschaft des Geldes" sehr
überzeugend dargelegt hat. In diesem Sinne bin ich, wie er, Marxist.
Es ist nicht ein bestimmter Stoff, den das Subjekt aus seinem Objekt, Natur
ziehen möchte, verschiedene Subjekte suchen verschiedene nutzenstiftende
Leistungen des Objekts Natur, aus dem allgemeinen Knappheitsproblem wird ein
Allokations- und Verteilungsproblem, und aus dem subjektiven Strom
"Nutzen" wir ein objektiver Strom "Wert", den wir gemeinsam
aus unserem Objekt Natur herausziehen. Die Subjekte treten in
Konkourrenzbeziehungen bezüglich bestimmter Leistungen der Natur ein, so erhält
Wert eine numerische Komponente, und seine numerische Bestimmtheit (seine
Identität) nimmt der Wert aus den Geldzahlungen, welche dem Wertefluss
typischerweise entgegenlaufen.
Wie ist es um die Subjekt-Subjekt-Beziehung zwischen Homini Oeconomici
bestellt? Schlecht, weil jeder nur durch seinen eigenen Subjekt-Objekt-Schnitt
definiert ist. Der Homo Oeconomicus hat keine Systemgrenze. Homini Oeconomici
können sich nicht zueinander als Subjekte verhalten. Statt dessen müssen sie
einander objektivieren, müssen stochastische Modelle von einander anfertigen,
anders funktoniert ihr Entscheidungsmechanismus nicht. Am besten geht das noch,
wenn das andere Subjekt in einer großen Zahl gleicher Subjekte verschwindet
(Markt), derart dass der Tauschpartner anonym und objektivierbar und
stochastisierbar wird.
Was für den Homo Scientificus das Objekt der Erkenntnis ist, ist für den Homo
Oeconomicus die Ware. Was für den Homo Scientificus Wahrheit ist, ist für den
Homo Oeconomicus Wert. Der ökonomische Code "Wert" und der
physikalische Code "Wahrheit" beruhen beide auf ein und demselben
Schnitt, nämlich dem Schnitt zwischen Kultur und Natur, einmal als Objekt der
Erkenntnis, das andere mal als Objekt der Begierde. Wahrheit ist eine binäre
Ausprägung diese Codes, Wert ist eine numerische Ausprägung dieses Codes.
Wahrheit ist ein Bestandscode - es gibt ein Ideal von vollständiger Wahrheit,
das nicht weiter zu vervollkommnen ist. Wenn die Wahrheit gefunden ist, ist die
Physik am Ende. Wert ist hingegen ein Flusscode, unter diesem Code kann der
Subjekt-Objekt-Schnitt keine Befriedigung finden. Die strukturelle Differenz
zwischen Wahrheit und Wert liegt somit iin ihrem Bezug zur Zeit (Bestandsgröße
vs. Flussgröße).
Das alles ist triviale Wissenschaft. Warum interessieren mich die trivialen
Wissenschaften so sehr? Weil sie formalisierbar sind, und nur Triviales ist
formalisierbar. Irgendwie müssen wir an das Formale herankommen, wenn unsere
kritischen Einsichten bezüglich der Form des Subjekt-Objekt-Schnitts praktische
Konsequenzen haben sollen. Wir müssen unsere wissenschaftlichen und
wirtschaftlichen Selbstmissverständnisse explizieren, wenn wir ihnen entkommen
wollen. Diese Reflexion können wir anhand der trivialen Wissenschaften
vornehmen.
Wenn wir eine explizit nicht-triviale Wissenschaft machen wollen, müssen wir
von diesem Schnitt und all seinen Konsequenzen runterkommen, performativ. Als
Wissenschaftler müssen wir aufhören, nach Wahrheit zu suchen, als Teilnehmer am
Wirtschaftprozess müssen wir aufhören, nach Wert zu suchen. Wie sonst können
wir unseren wissenschaftlichen Dialog begründen, wenn nicht über Wahrheit oder
Wert? Das scheint mir eine wichtige Frage zu sein.
Solche Fragen führen leicht ins Private, man könnte an Freundschaft denken,
oder an das Ich-Du-Verhältnis im Gegensatz zum Ich-Es-Verhältnis, oder an
Christus oder Maria, in deren Antlitz wir Gott erblicken. Interessanter als
derlei finde ich, in systemtheoretischer Hinsicht, das Verhältnis zwischen
einem bestimmten kulturellen Ich und einem anders bestimmten kulturellen Du,
also z.B. das Verhältnis zwischen Physik und Ökonomie. Nimmt man Physik und
Ökonomie beide als gegebene Systeme (Wissenschaften, Institutionen) hin, so
stellt sich die Frage: wie kann das Verhältnis zwischen Physik und Ökonomie
bestimmt werden? Wie ist dieses Verhältnis faktisch bestimmt? Sind Varianten
dieser Verhältnisbestimmung denkbar? Können hier dialektische Formelemente
Eingang finden? Wie sehen die Vermittlungsbedingungen aus?
Wenn man von der Physik her denkt, wäre zuerst eine Selbstreflexion nötig, und
dazu gehört eine hermeneutische Klärung des Verhältnisses zwischen klassischem
und quantischem Schnitt. Dadurch könnte die Physik eine strukturelle Offenheit
gewinnen, durch die sie überhaupt erst dialogfähig wird. Und natürlich müsste
auch das Verhältnis zwischen physikalischem Code und physikalischen Programmen
neu geklärt werden, so dass die Physik in die Lage kommt, auf ihre eigene
Systemgrenze zu reflektieren und sie auszudifferenzieren.
Wenn man von der Ökonomie her denkt, ist als erstes zu unterscheiden zwischen
der Wirtschaft selbst (der Ökonomie) und der Theorie von der Wirtschaft (der
Ökonomik). Die Ökonomie ist das Objekt der Ökonomik, und die Ökonomie ist
selbst ein kulturelles Geschehen. Die Ökonomik leistet für uns die Explikation
des Selbstmissverständnisses der Ökonomie. Es ist nicht so sehr die Ökonomik,
sondern vor allem die Ökonomie, die der Selbstreflexion bedarf. Wir, die
Wirtschaftssubjekte, müssen auf den Begriff des Werts reflektieren, und auf die
Differenz zwischen dem Wert als Lebensqualität (Freude, Heiterkeit,
Zufriedenheit) und dem Wert als numerischem Betrag. Auch hier liegen
möglicherweise zwei differente Schnitte vor, deren ungeklärtes Verhältnis zu
großer theoretischer Unklarheit geführt hat.
Nach diesen internen Reflexionsschritten hätte der Dialog zwischen Ökonomie und Physik größere Aussicht auf Erfolg.